Zuckerleben: Roman (German Edition)
grinst auf den Betrachter herab mit der Genugtuung eines durchtriebenen Casanovas, der am Hochzeitstag weiß, dass er derjenige sein wird, der am Ende des Abends die Braut vernaschen wird, und nicht der Bräutigam.
Ein »g« und ein »o« penetrieren sein Porträt von links oben, aber das scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Die Buchstaben gehören zum geschwungenen kyrillischen Schriftzug:
ES REGNET ÜBER SANTIAGO (FR/BG 1975)
Darunter weniger pathetisch, in gewöhnlicher Schriftgröße, ebenfalls in Kyrillisch:
GENOSSEN UND -INNEN!
Das Nüchternheitskomitee des Rayons Dondușeni lädt seine Mitglieder (Gäste, die wie wir Trunkenheit und Alkoholismus den aggressiven Kampf angesagt haben, sind willkommen!) zu der allmonatlichen Filmvorführung im Kino »Zorile«, Serghei-Lazo-Straße 32 – 36, ein! Für ein gutes Sortiment an heimischen Säften und Mineralwasserprodukten sowie für das leibliche Wohl ist mit Doktorenwurst-Brötchen gesorgt. Ihr werdet mich fragen: Wadim Wladimirowitsch, welchen Film zeigen Sie uns heute?
Nun, wie jeder sowjetische Werktätige weiß, jähren sich heute zum 12. Mal die Ereignisse vom 11. September! Die amerikanischen Imperialisten hoffen und tun alles dafür, dass die Weltöffentlichkeit diesen Tag, den 11. September, vergisst. Doch wir in der Sowjetunion wissen: Am Dienstag, 11. September 1973, hat die CIA auf Befehl der US-amerikanischen Regierung den demokratisch gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende, aus dem Amt geputscht und ermordet. Ersetzt wurde Allende durch die US-freundliche faschistische Militärjunta von Augusto Pinochet. 3000 ermordete chilenische Sozialisten am ersten Tag! Einen Monat später waren es 30 000! Wie viele es heute sind, wissen wir nicht.
Doch so, wie die Welt schon zwei Jahre später, 1975, den Fall der letzten Bastion des Faschismus in Europa – ich spreche natürlich vom frankistischen Spanien – gefeiert hat, wird sie den Fall der faschistischen Militärdiktatur Pinochets in Chile eines Tages auch feiern!
Heute gedenken wir der Opfer des 11. September, der Opfer des amerikanischen Weltimperialismus, und zeigen die französisch-bulgarische Koproduktion Es regnet über Santiago , die den tragischen Ereignissen vom 11. September 1973 gewidmet ist. In den Hauptrollen zu sehen: Der sympathische Najtscho Petrov als Salvador Allende, Bibi Andersson als Monica Calve, Jean-Louis Trintignant als der Senator, John Abbey als CIA-Schurke und die bezaubernde Annie Girardot in der Rolle der Maria Olivares.
GENOSSEN UND -INNEN!
Ich erwarte euch alle im Kino »Zorile« und hebe schon jetzt mein Glas Borzhomi-Mineralwasser auf euch, auf uns, denn wir, Werktätige der UdSSR, haben Grund zu feiern:
Die allgemeine Krise des amerikanischen Weltimperialismus vertieft sich. Unaufhaltsam schrumpft sein Herrschaftsbereich, immer deutlicher wird es, dass er historisch dem Untergang geweiht ist. Und wir in der Sowjetunion wissen: Bei aller Ungleichheit, Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit ist die Bewegung der Menschheit zum Sozialismus und Kommunismus unaufhaltsam.
GENOSSEN UND -INNEN,
voll Inbrunst rufe ich euch zu:
UNSER AGGRESSIVER KAMPF GEGEN TRUNKENHEIT UND ALKOHOLISMUS!
und:
ES LEBE DER MARXISMUS-LENINISMUS!
ES LEBE DIE SOWJETUNION!
ES LEBE DIE KPDSU!
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HLEBNIK, W. W.,
Vorsitzender des Nüchternheitskomitees des Rayons Dondușeni,
Zweiter Sekretär des Rayonskomitees der KPdSU des Rayons Dondușeni, Direktor der rayonalen Zuckerfabrik von Dondușeni
Darunter Hlebniks Unterschrift, mit dem Selbstbewusstsein eines ZK -Generalsekretärs über den Rundstempel des Nüchternheitskomitees und das Wappen der Moldawischen SSR gewalzt.
Die haarige Hand des Helden der sozialistischen Arbeit Wladimir Pawlowitsch reißt das Plakat herunter. Eine sorgfältig gesäuberte Glaskugel von seriösen Ausmaßen wird sichtbar. Daneben liegen einige lange Rohre, die ebenfalls in von Direktor Hlebnik handsignierte weiche Nüchternheitskomitee-Plakate penibel eingewickelt sind.
»Weißt du, was das ist?«
Ilytsch klopft mit dem Zeigefinger gegen den enthüllten Teil der Glaskugel und starrt hinein, als erwarte er, dass sich da gleich ein Marx-ähnlicher Zwerg hinter der dicken Glasmembran herauszwängt und Ilytsch mit einem »Servus, Ilytsch, wo warst du denn die ganze Zeit?!« begrüßt und dabei »Das Plakat ist ein Soldat, der direkt mit dem Volk spricht!« in
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