Zuckerleben: Roman (German Edition)
nur so herzlos sein, Tutunaru, zu einem Menschen, der gerade auf wundersame Weise dem Tod entkommen ist?
Und tatsächlich, denkt sich Tutunaru, eigentlich hätte sich der Held der sozialistischen Arbeit bei seiner Aktion in der Abfüllhalle 2 durchaus das Genick brechen können. Oder sogar müssen! Vielleicht gibt es aber auch eine andere logische Erklärung dafür. Ob Ilytschs Halswirbel von einem Implantat aus leichtem und unzerstörbarem Titan zusammengehalten werden, von der Art, wie es im Raumfahrtzentrum in Bajkonur für den Bau von Sojus-Raketen verwendet wird?
Pitirim versucht, alle Gedanken an Ilytsch zu vertreiben und stattdessen an etwas Angenehmeres zu denken, zum Beispiel, wie er mithilfe von Hlebniks Zucker ein neues Leben im krisenfreien Italien beginnen wird. Aber das alles nützt nichts, denn die schweren Gedanken um Ilytschs Vertreibung aus Hlebniks gezuckertem Nomenklatura-Tunnel nagen wie hungrige Ratten an Tutunarus Gewissen. Der junge Moldawier zwingt sich, über die Causa Wladimir Pawlowitsch noch einmal nachzudenken, und kommt zu folgender Erkenntnis:
Erstens braucht er Ilytsch, um schneller nach Italien zu gelangen, denn selbstgebrannter Schnaps, Samagon, ist bedeutend gewinnträchtiger als Zucker, und der alte Held der sozialistischen Arbeit kann als Einziger der beiden die Schnapsbrennanlage bedienen. Zweitens ist es auch in Ilytschs Interesse, Tutunaru schnell seine Ausreise nach Italien zu ermöglichen, damit er danach selbst alleiniger Herr über Hlebniks Nomenklatura-Datscha und die Zuckerfabrik sein kann, um darin sein sozialistisches Schnapswerk zu eröffnen. Drittens ist Tutunaru für Wladimir Pawlowitsch als Schnapsvertreiber von Bedeutung, und folglich hätte Ilytsch keinen Grund, ihn über den Tisch zu ziehen. Vorerst jedenfalls nicht.
Also läuft Pitirim Tutunaru dem Helden der sozialistischen Arbeit hinterher, holt ihn bei den Zuckersäcken ein und stimmt dem Deal zu.
Ilytsch quittiert den radikalen Gesinnungswandel des jungen Moldawiers mit einem Nicken, als hätte der alte Zuckerfabrikarbeiter die ganze Zeit über gewusst, dass Tutunaru doch auf seinen Vorschlag eingehen würde.
»Bist du bereit, Junge?«
»Wofür?«
»Um in Italien Pizzen zu backen für die Kapitalisten …«
»Hör zu, Ilytsch, ich will da nicht als unterbezahlter Pizza-Sklave wie Papa Carlo schuften oder als illegaler Asylwerber-Bauarbeiter verkümmern, was denkst du denn? Ich will dort ein freies, sorgloses Leben führen und mich mit meiner Kunst beschäftigen, in Venedig ausgelassen Karneval feiern und Chianti trinken. Mehr brauche ich gar nicht.«
»Ich sehe, mit dem Geschmack ist bei dir alles in Ordnung. Und was machst du als Erstes, wenn du nach Italien kommst?«
»Als Erstes kaufe ich mir die italienische Staatsbürgerschaft. Bei denen im Westen bekommst du nämlich alles für Geld. Warum? Weil dort die Bourgeoisie das Sagen hat: Die Bourgeoisie ist die Klasse der Besitzenden und aus diesem Grund Herrschenden. Mit anderen Worten: Alles eine Frage des Preises.«
»Und du glaubst, 40 Tonnen Zucker sind genug für ein Zuckerleben in Italien?«
»Hauptsache, es geht los. Wenn du mich fragst, sind 40 Tonnen Zucker gar kein so schlechter Anfang.«
»Aber eines muss dir klar sein, Pitirim: Sehr viele Menschen werden nicht zögern, uns beiden sehr wehzutun, um an das zu kommen, was wir hier haben.«
»Soll heißen?«
»Wir, du und ich, sind jetzt in Hlebniks Situation. Wir sind jetzt die Gejagten.«
»Darum müssen wir uns kümmern.«
»Aber vorher sollten wir den Generator finden.«
»Was?«
»Du glaubst doch nicht, dass Hlebnik seine Schnapsproduktion von einer minderwertigen staatlichen Stromversorgung abhängig gemacht hat, oder? Mit der Stromversorgung stehen und fallen alle großen Unternehmungen. Wie Lenin sagte: ›Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung.‹«
Tutunaru grinst.
»Was denn?«, fragt Ilytsch.
»Im Schwall von Geschäften, Erscheinungen, Plänen … Verdämmerte langsam der Tag und entschwand. Zwei sind im Zimmer: Ich und auch Lenin. Er als Foto an weißer Wand.«
»Hör auf mit dem Blödsinn!«
»Du hast mit Lenin angefangen!«, sagt der Moldawier, macht eine Drehung und schreitet vor Ilytsch einher, sein Hinken nachahmend, und schwingt dabei rhythmisch die Parastas-Kerze hin und her, als wäre sie ein Dirigentenstab.
Im Staccato-Ton fährt der Dondușenier Spekulant fort, die Verse wie Salven eines AK -47-Sturmgewehrs zielgenau
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