Zuckerleben: Roman (German Edition)
Tutunaru, der den Kanister mit der Bremsflüssigkeit langsam herunternimmt und auf dem Boden absetzt. Der Held der sozialistischen Arbeit befreit sich vom Strick. Felix Edmundowitsch lässt das Stück Doktorenwurst, das er extra für Ilytsch aufgespart hatte, über dessen Gesicht fallen. Hustet leicht auf und leckt mit seiner rauen Zunge über die Wangen des Zuckerfabrikarbeiters.
»Tutunaru, Pitirim Ionowitsch«, stellt sich der Spekulant vor und streckt Wladimir Pawlowitsch seine geschundene Hand entgegen. Ilytsch befreit sich vom Fuchs und lässt sich von Tutunaru hochziehen, während sich dieser auf die blauen Striemen am Hals des Helden der sozialistischen Arbeit konzentriert, um den pochenden Schmerz in seinen eigenen Körperextremitäten für einen Moment zu vergessen.
»Danke, mein Junge. Der Einfachheit halber: Ilytsch«, führt sich der Zuckerfabrikarbeiter lakonisch ein.
»Der kennt dich wohl, was?« Tutunaru lächelt mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht und zeigt auf den Fuchs.
»Seine Mutter ist letztes Jahr von einer Erntemaschine erfasst worden. Wir haben ihn hier mit Milch und Zucker aufgepäppelt. Und die Mühe hat sich gelohnt: Schlau ist der geworden, sag ich dir, wie ein Tschekist!«
Ilytsch macht ein paar Schritte, leicht hinkend, und wedelt mit dem Stück Doktorenwurst wie mit einem eindeutigen Beweisstück in einem Schauprozess umher: »Welcher Fuchs kommt sonst heutzutage an eine defizitäre Doktorenwurst dieser Nomenklatura-Qualität ran?«, und beißt hinein. »Nur Felix Edmundowitsch. Ganz klar«, flüstert Ilytsch mit vollem Mund. »Wo hat er die her?«
»Ist wahrscheinlich aus Hlebniks Tunnel.«
»Hlebniks was?«
Ilytschs Pupillen weiten sich.
Fuchs Felix Edmundowitsch hat sich davon überzeugt, dass Ilytsch physisch außer Gefahr ist, hüstelt einmal leicht auf und trottet in gemütlichem Tempo, vom muffigen Geruch nach Kaffee und Socken eskortiert, unbemerkt seinen Geschäften nach.
»Da ist eine unterirdische Verbindung, die zu seiner Rayonskomitee-Datscha führt. In der Abfüllhalle 2.«
Kaum hat Tutunaru diese Worte artikuliert, schon setzen sich die zwei ungleichen Sowjetbürger in Bewegung, als hätte man sie verbrüht mit heißem Kipetok , Richtung unterirdische Verbindung zu Zuckerfabrikdirektor Hlebniks Nomenklatura-Bungalow.
Pitirim Tutunaru, weil er vor seinem geistigen Auge wieder die zauberhaft schimmernden Zuckersäcke im Tunnel sieht, sein Ticket nach Italien, dem Land seines Traums. Der Zuckerberg, sein Ticket, an dem er einfach vorbeigelaufen ist. Wie konnte das passieren?
Und Ilytsch, mit dem Stern des Helden der sozialistischen Arbeit auf seinem lumpenen Nadelstreif-Revers, weil er im Tunnel das Versteck von Hlebniks 40 Tonnen Zucker vermutet, mit anderen Worten: die gerechte Kompensation des Schicksals für seine verloren gegangene Zuckerfabrik-Pension.
DER 11. SEPTEMBER WIRD FÜR IMMER IN UNSEREM GEDÄCHTNIS BLEIBEN!
steht in Kapitallettern und mit einer Überzeugung geschrieben, als würde die Parole für mindestens ein Dutzend Millionen Bürger einer Atommacht sprechen. Halblinks darunter ist das Foto eines etwa 60-jährigen Mannes in gut geschnittenem bürgerlichem Anzug, mit dicker Brille und gepflegtem Oberlippenbart zu sehen. Der Mann erweckt den Eindruck eines Landarztes, der viel zu früh wegen eines Notfalls geweckt wurde. Er hat, ohne zu zögern, sein bequemes Bett verlassen, um sich pflichtbewusst seines Patienten anzunehmen, dabei weder seine Garderobe noch seine Rasur vernachlässigt, so scheint es. Zwei Dinge passen aber überhaupt nicht zum äußeren Bild des blassen Landmedikus: Die kubanische Kalaschnikow, die der Mann fest umklammert, als müsste der Mediziner plötzlich seine Praxis verteidigen, und der abzeichenlose Schutzhelm auf seinem mit leuchtenden Augen (er wird seine Praxis verteidigen!) bebrillten Kopf. Daneben zeigt ein weiteres Foto ein scheinbar verlassenes, im spanischen Kolonialstil errichtetes Palais, aus dem Rauch aufsteigt. Die Praxis des Landarztes? Darüber zwei Militärflugzeuge, die in ihrer Vorwärtsbewegung, wie aus der Laune eines mächtigen Gottes heraus, eingefroren wurden. Unter dem hinteren Bomber ist ein ebenfalls eingefrorener Fleck zu sehen, der auf den rauchenden Palast fällt.
Ganz rechts außen auf dem Plakat thront in einem sorgfältig und ein wenig untersichtig kadrierten Porträt-Bild ein uniformierter Opa mit Schnurrbart und Schirmmütze hinter einem Schreibtisch. Er ist wohlgenährt und
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