Zuckerleben: Roman (German Edition)
Kaliber 9 x 19 mm.«
»Woher hast du, ich meine –«
»Es ist Roccos Beretta. Und jetzt drück ab. Versprochen ist versprochen.«
» WAS? «
»Ich möchte, dass du mich erschießt.«
03:43
Nebel.
Und eine feuchte Brise.
Und ein Knistern, ähnlich dem eines Lagerfeuers.
Mit verkrampfter Ostblock-Physiognomie starrt der Moldawier in den milchigen Nebel hinein, wie ein Pirat im Ausguck den Horizont auf der Suche nach einem Flecken Land durchlöchern würde, kann aber das Lagerfeuer nicht ausmachen. Und doch hört der Osteuropäer mit seinem wachen inneren Auge das Schmatzen von Flammen, die geduldig Holzscheite knacken und ihren eigenen Schatten lecken. Und entleert seinen Darm lautlos, nach Art eines geübten Spähers im Einsatz.
Hähnchen, blya !, denkt sich der Moldawier: »Benzin! Es riecht doch nach verbranntem Hähnchen und nach Benzin! Pizdeț! «
Tolyan Andreewitsch schlussfolgert, dass ein Gast des Hotels »Dolce della Luna« den nocturnen Drang verspürt haben muss, sich zu dieser Uhrzeit ein Hähnchen-Schaschlik über offenem Feuer zu braten.
Womöglich ein lustiger Faun aus Sizilien, wie es derer viele gibt, sagt sich Tolyan Andreewitsch, inspiziert seine rechte Hand und lässt das nasse, fasrige Gewächs wieder fallen, das er aus dem Biotop neben sich herausgezupft hat. Links von sich ertastet der Moldawier einen strammen Strauch Brennnessel, den er sogleich wieder in Ruhe lässt, denn obwohl die Pflanze vom medizinischen Standpunkt her über eine nicht zu vernachlässigende Heilkraft verfügt, als Toilettenpapierersatz eignet sie sich nicht.
So verharrt der Moldawier eine Zeit lang gedankenverloren in der Adlerstellung, kramt in sämtlichen seiner Taschen nach weichem, formbarem Papier – erfolglos – und gewährt seinem Anus einen lang gezogenen schrillen Furz der Enttäuschung.
Dann weht die Brise dem enthüllten Po des Moldawiers drei herzförmig-ovale Blätter einer ihm unbekannten botanischen Kreation entgegen, als hätte Mutter Natur von seiner misslichen Lage erfahren und beschlossen, ihm zu Hilfe zu eilen. Geistesgegenwärtig packt Tolyan Andreewitsch die schwach grau-filzig behaarten Blätter hinter sich und tut damit, was getan werden muss.
Just in dem Moment, in dem der Osteuropäer der Natur für ihre Kooperation gedanklich seine Dankbarkeit ausspricht, lichtet sich der Nebel und offenbart dem Moldawier mitten auf der hoteleigenen Streuobstwiese des Gastbetriebes »Dolce della Luna« das Ausmaß der Eurokrise, bei dessen Anblick dem Moldawier eine konzentrierte Ladung Blut in die übermüdeten Augen schießt, so, als hätte er bulgarischen Klebstoff gerochen: Zwei Männer, einer mit Bart und einer ohne, sowie zwei Frauen in eleganter Abendgarderobe braten über einem Stapel Europaletten einen Mitmenschen.
Kannibalismus.
»Hier in Italien. Im 21 . Jahrhundert, mîncați-aș …«, flüstert der Moldawier.
Und die Menschen regen sich über die geborgte Konjunktur und Berlusconi auf.
Eine der Frauen, sie hat kurzes rotes Haar, vergräbt ihr Gebiss in etwas Knusprigem und kaut konzentriert.
Tolyan Andreewitsch stellt fest, dass er in der Rothaarigen die Gesichtszüge der Hotelbesitzerin des »Dolce della Luna« Monica di Garozzo ausmachen kann.
Signora di Garozzo?!
Die andere Frau schüttet indes noch etwas Benzin über den leblosen Bürger auf dem brennenden Stapel Europaletten. Sie hantiert ungeschickt mit dem Kanister – die Frau hat wohl sein Gewicht unterschätzt – und lässt einen großzügigen Benzinschwall auf die Leiche schwappen. Eine Stichflamme schießt aus dem Dahingeschiedenen empor und intensiviert den Geruch nach verbranntem menschlichem Fleisch.
Die haben einen ganzen Menschen aufgegessen, und jetzt beseitigen sie die Spuren, denkt sich der Moldawier und zieht sich die Hose hoch.
»Pa šta radiš, budala!? Polako, ž ena!«, ruft der bärtige Mann mit einem schwenkbaren Weihrauchfass in der Hand aufgebracht der Frau mit dem Benzinkanister entgegen, springt einen Schritt zur Seite und deckt sich Mund und Nase mit dem Saum seines sonderbar schwarzen Kaftans ab. Die Frau sieht den bärtigen Mann verständnislos an.
»Was? Was sagten Sie?«
»Piano, Signora. Piano! Basta adesso! Sachte, sachte! Es reicht jetzt, Signora!«, übersetzt ihr der zweite Mann beim Lagerfeuer, der stark schwitzt in seinem bedruckten T-Shirt, auf welchem Tolyan Andreewitsch die kyrillische Aufschrift »Kosovo = Srbija« entziffern kann, und reißt der Italienerin den
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