Zuckerleben: Roman (German Edition)
einen Mafia-Kurier, Schrägstrich Killer … Es müssen Diamanten sein. Mindestens. Jetzt sag du doch bitte auch mal was!«
Angelo schweigt, als wäre er gar nicht anwesend.
Das Mädchen betrachtet ausgiebig den glänzenden Schaft der Beretta, den es nach wie vor gegen seine Brust gedrückt hält, und überlegt, ob da überhaupt schon eine Patrone im Lauf ist. Dann spricht es weiter:
»Frauen mögen eigentlich sanftere Selbstmordmethoden. Tabletten zum Beispiel. Oder Pulsadern aufschneiden. Tabletten wären mir auch lieber, um ehrlich zu sein. Aber wir haben leider keine hier. Und Pulsadern aufschneiden. Das habe ich zwar schon ein paarmal versucht, certo, aber irgendwie war ich nicht konsequent genug. Ich schätze, ich kann kein Blut sehen. Und deswegen. Deswegen habe ich Roccos Pistole mitgehen lassen, als Notlösung. Sie sollte gut genug sein. Hör zu, Angelo, ich habe in meinem Abschiedsbrief alles aufgeschrieben. Mach dir keine Sorgen deswegen. Keiner wird dir etwas vorwerfen. Sie werden verstehen, dass du es gut mit mir gemeint hast. Dass du mir nur helfen wolltest und dass ich dich um deine Hilfe gebeten habe. Im Prinzip ist es nichts anderes als eine Alternativform von Euthanasie. Angelo, ich bitte dich, drück endlich ab. Bringen wir’s hinter uns.«
Stille.
Cristina wundert sich, warum der Junge nicht versucht, sich aus ihrem Griff loszureißen, und warum er nichts sagt, nichts antwortet auf das, was sie ihm erzählt. Das Mädchen redet weiter. Es hat vor, den passenden Moment abzuwarten, bis die Wachsamkeit des Jungen nachlässt, um dann blitzschnell mit dem Zeigefinger des Schülers den Abzug der Beretta zu betätigen und so den herbeigesehnten Schuss auszulösen.
»Erklär mir doch wenigstens, warum du wegen Rocco… Ich meine, ich kann das nicht verstehen. Der Typ ist doch ein mieses Arschloch!«, platzt es unerwartet aus dem Jungen heraus.
»Ich liebe ihn nun mal.«
»Das kapier ich nicht. Er hat dich doch wie Scheiße behandelt. Er hat dich betrogen. Du hast doch selbst gesehen, wie er dich betrogen hat. Er hat dich geschlagen, und, was noch schlimmer ist, er hat dich ignoriert. Nicht wahrgenommen. Und das nennst du Liebe?«
Cristina lässt sich Zeit.
Dann sagt sie in einem sanften Tonfall, als müsste sie einem Kind behutsam eine schlimme Neuigkeit mitteilen:
»Man kann es sich nicht aussuchen, wen man liebt, Angelo. Liebe ist blind. Und ich liebe Rocco nun mal, unabhängig davon, ob er mich auch liebt oder nicht. Ob er mich betrügt oder nicht. Viele Lieben sind so. Die meisten Lieben sind so. Meine Liebe zu Rocco. Du wirst mich jetzt bestimmt auslachen, aber die habe ich mir immer wie eine kleine Flamme vorgestellt, die ich speisen muss, damit sie nicht ausgeht. Und wenn du das Gefühl hast, dass du die Wärme dieser Flamme zum Überleben brauchst, dass ohne sie alles andere keinen Sinn mehr hat, dann bist du bereit, alles dafür zu tun, dass die Flamme nicht erlischt, capisci quello che dico , verstehst du? Zuerst habe ich ihr meinen Stolz und meine Unabhängigkeit geopfert. Dann, als ich merkte, dass das nicht genug war, um die schwache Flamme zu erhalten, fing ich an, für sie Menschen, die ich einmal kannte und die mir einmal wichtig gewesen waren, aufzugeben, einen nach dem anderen. Bekannte, Freunde, Familie. Und es ist immer noch nicht genug. Jetzt habe ich nichts mehr, was ich ihr noch opfern könnte. Nur mich selbst. Und weißt du was? Mit mir wird die Flamme sterben. Und das wird auch meine Rache an Rocco sein, für seinen Verrat. Vielleicht wird er dann merken, was er an mir gehabt hat, wenn ich tot bin. Vielleicht wird er an meinem Grab weinen … Wegen all dem, was er mir angetan hat. Vielleicht wird es ihm leidtun, aber es wird zu spät sein …«
»Und was ist mit mir ? Ich liebe dich, Cristina. Ich möchte bei dir sein. Weil ich dich liebe. Ist dir das denn egal?«
Cristina sagt nichts.
Stille.
Cristina sieht durch ihn hindurch und schweigt.
Das Kokain. Angelo spürt es immer noch. Es pocht in seinen Schläfen, als wär dort ein zweites paar Lungen. Und es kitzelt seine Zunge. Er kann seinen Mitteilungsdrang nicht mehr im Zaum halten. Und so bricht es aus ihm heraus. Der Schüler spricht fieberhaft und schnell. Er wechselt unvermittelt das Thema und fängt an, über das System des Raubkapitalismus und die Ausbeutergesellschaft des Konsums zu erzählen, die er um sich herum sieht und die den Menschen zugrunde richtet:
»Der Durchschnittsitaliener, nennen wir ihn
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