Zuckerleben: Roman (German Edition)
Giuseppe, arbeitet, um Geld zu haben, um Dinge anzuhäufen, die ihm, so glaubt er, Glück bringen müssten: Eine Wohnung, ein Auto, auf Kredit gekauft, sind das Mindeste. Diese Dinge benötigt er, um in der kapitalistischen Gesellschaft als erfolgreich zu gelten. Ohne sie ist Giuseppe in den Augen der Gesellschaft ein Versager. Und ein schlechter Konsument, also eine Bremse für das Wirtschaftswachstum und für den Wohlstand.
Die allgegenwärtige Werbung im Dienste des allgegenwärtigen, institutionalisierten Konsumwahns – das Land braucht schließlich Wirtschaftswachstum, Sicherung der Arbeitsplätze! – kitzelt noch mehr Geld aus seiner Tasche heraus. Dieses Geld gibt er dafür aus, sich noch mehr materielle Dinge zu besorgen, die ihn, so glaubt er, glücklich machen müssten. Doch um sich diese Dinge überhaupt leisten zu können, muss Giuseppe ihretwegen noch mehr von seiner kostbaren, ja unbezahlbaren Lebenszeit opfern. Dafür verschleißt er bereitwillig seinen Körper in nicht enden wollenden Überstunden, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, an einem Arbeitsplatz, der ihm nichts bedeutet. Wo er eine Tätigkeit verrichtet, die ihm auch nichts bedeutet. Die er nur deswegen ausübt, weil er sich Sicherheit wünscht. Die Sicherheit, all seine Rechnungen, Kredite, Zinsen und Steuern bezahlen zu können. Giuseppes Leben ist nichts als ein Zyklus aus Überweisungen, Rechnungen, Gebühren, Abgaben, Taxen und Steuererklärungen, worüber die Guardia di Finanza mit Aasgeieraugen wacht. Er muss alles pünktlich abbezahlen und am besten jedes Mal mehr – der Konsum muss schließlich gefördert werden, die Wirtschaft muss wachsen und mehr Zeug produzieren! Und schuften. Jeden Tag muss er schuften, wie ein Roboter. Und konsumieren. Und schuften. Und Schulden machen. Und noch mehr konsumieren. Und dafür noch mehr schuften. Und um seinen Arbeitsplatz bangen.
Das gilt für neunzig Prozent unserer Gesellschaft. Neunzig Prozent unserer Gesellschaft setzen sich aus aus solchen Giuseppes zusammen. Die restlichen zehn Prozent, das sind die Reichen. Für sie arbeiten der italienische Staat, die Regierung, Berlusconi. Für sie entwirft die Republik Italien unermüdlich Gesetze. Für sie schnürt der italienische Staat mit dem Geld, das er aus den anderen neunzig Prozent per Gesetz ausquetscht und vom Finanzamt eintreiben lässt, Euro-Rettungsschirme und Milliarden-Hilfspakete, für den Fall, dass die Reichen eine Bank, ein Unternehmen oder einen ganzen Wirtschaftszweig an der Börse verspekulieren sollten. Wie viele von diesen Typen, die die Krise verschuldet haben, wurden zur Rechenschaft gezogen? Wie viele von ihnen sind verurteilt worden? Wie viele von ihnen sitzen Gefängnisstrafen ab? Ah? Wie viele? Kein Einziger. Nessuno! Nicht einer. Ist das Gerechtigkeit? Ja, die Gerechtigkeit einer verlogenen, schizophrenen und kaputten Gesellschaft ist das. Gleichzeitig sorgt der Staat bei uns dafür, dass die Giuseppes, die neunzig Prozent der Bevölkerung, den Reichen, Italiens zehn Prozent, nicht mit dem Messer an die Gurgel springen, ihnen ja nicht den von flinken, steuerfrei unterbezahlten Asylantenhänden blank polierten Austernteller vor der Nase wegschnappen, ihnen nicht das eigene scharfe Muschelmesser bis zum Heft in ihren fetten Augapfel stoßen und dabei in ihre überfressene geliftete Fratze schreien: HER MIT DEM SCHÖNEN LEBEN, CAZZI! Ab und zu spuckt ihnen mit warmen Grüßen aus dem Mezzogiorno die Mafia in die Suppe und lässt sie im eigenen Müll versinken, wie in Neapel, so aus Spaß am Kapitalismus-Sport und am EU-Subventions-Sirtaki. Doch was wird aus Giuseppe, aus diesem von der westlich kapitalistischen Gesellschaft zum unmündigen Konsum-Roboter erzogenen Menschen? Irgendwann mal geht er an seinem Leben zugrunde – körperlich, mental. Er wird krank, kann nicht mehr so viel leisten, kann nicht mehr so viel schuften, kann nicht mehr so viel Zeug kaufen und damit das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Und da verabschiedet die Gesellschaft Giuseppe, diese mittlerweile furchtbar uninteressant gewordene Steuernummer, mit einem Arschtritt und einer 500-Euro-Pension, wenn er Glück hat, in das aus den offiziellen Statistiken weggepuderte Prekariat. Ersetzt wird er durch einen frischen neuen Giuseppe, der unverzüglich in das System eingespeist wird. Und ich frage mich: Will ich dieser frische Giuseppe sein? Will ich der Ersatz eines kaputten, alten Giuseppe sein? Und für die Krise dieser Mailänder
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