Zuckerleben: Roman (German Edition)
stehen und sieht ihn eindringlich an.
»Ja. Was denn? Willst mich jetzt verführen oder was?«, erkundigt sich Ilytsch und grinst breit.
Flocosu starrt den Helden der sozialistischen Arbeit weiterhin an, als würde es um Leben oder Tod gehen. Mindestens.
»Was ist los mit dir, Roma? Ist was passiert?«
»Wir haben Besuch aus Amerika, Ilytsch.«
»Was haben wir?«
» Besuch aus Amerika! «, sagt der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu noch einmal und zieht den Helden der sozialistischen Arbeit Richtung Flussufer.
Etwa fünfundsiebzig Meter von der Scheune entfernt liegt im Schatten einer Buche ein ruderloses Fischerboot am Bach. Darin ruht mit hochgestellten Beinen und tief auf dem Bootsboden ausgestrecktem Rumpf in einer unbequemen Position ein Bürger im Anzug, auf dem Kopf ein Borsalino.
Der Mann ist frisch rasiert und lächelt, die Augen weit gen Himmel aufgerissen. Er trägt teure amerikanische Cowboystiefel, in die seine Hosenbeine gesteckt wurden; die Stiefel baumeln links und rechts aus dem Boot heraus. Der männliche Bürger bewegt sich nicht und verhält sich sehr ruhig.
»Und so ist er also aus Amerika zurückgekommen«, sagt der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu mit einer Mischung aus Respekt und Nostalgie.
Ilytsch betrachtet den Mann im Boot, beugt sich über ihn und hält ihm seinen kleinen Taschenspiegel vor den Mund.
Auf dem Spiegel erscheint kein Kondens.
Der Mann mit den Cowboystiefeln atmet nicht.
Ilytsch holt aus und schlägt dem Mann mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass auch der EHH R. F. von der jähen Bewegung des sowjetischen Zuckerfabrikpensionisten überrascht zusammenfährt; der Bürger im Boot zeigt keinerlei Reaktion auf Ilytschs Watsche. Wladimir Pawlowitsch packt den Spiegel weg, kramt in seiner Jacke nach einer Zigarette, findet in einer der Innentaschen seinen Abschiedsbrief, in dem er mit den Worten »45 Jahre Schufterei und alles für den Arsch. Ihr könnt mich mal. Ilytsch.« der Welt Lebewohl sagen wollte, packt den zerknüllten Zettel wieder weg und zündet sich eine moldawische Ballade an.
»Er ist tot. Aber noch ziemlich frisch.«
»Ja.«
»Hast du ihn sofort erkannt?«
»Nein. Zuerst. Zuerst habe ich mit dem Fernglas nur das Boot gesehen. Es ist langsam und geheimnisvoll in mein Sichtfeld geschwebt. Und in dem Boot lag er dann da, der Klient, stolz wie ein Kammerbojar mit seinen Cowboystiefeln in der Grätsche. Die Stiefel haben so geglänzt in der Sonne, mein Lieber, als seien sie aus purem Altabas gegossen worden. Und ich dachte mir, dass es bestimmt einer deiner extrovertierten Schnaps-Kunden sein müsse, der den Samagon mit dem Boot abholen kommt. Ich meine, ich hatte mal zu meiner Moskauer Zeit an der MGU , während der Gorbatschow’schen Prohibition war das noch, des Öfteren mit ein paar Böttchern aus Saporozhije zu tun, das waren ziemliche Saufschädel. Und was die immer für einen Schmarren verzapft haben, um an Samagon zu kommen, sage ich dir. Da standen mir immer die Haare zu Berge. Vor allem nach ihrer Methanol-Auktion in diesem Wasserkraftwerk in Ust-Kamengorsk in Kasachstan. Weißt du noch, wie Breschnew früher Kasachstan immer als ›das Laboratorium der Völkerverständigung‹ bezeichnet hat? Ich glaube, diese Böttcher-Windhunde aus Saporozhije haben das mit dem Laboratorium damals wirklich wörtlich genommen. Na ja, wie auch immer. Ist lange her. Jedenfalls. Du warst ja nicht da, Ilytsch, also konnte ich dich nicht fragen. Ich habe mich auch irgendwie gefreut auf den Klienten. Der schien ein interessanter Zeitgenosse zu sein – teuere Cowboystiefel, Borsalino und so. Ich habe also mehrmals nach deinem vermeintlichen Kunden gerufen, als er da so entspannt in seinem ruderlosen Fischerboot mit den Cowboystiefeln in der Luft durch die Gegend geschippert ist. Der hat aber nicht geantwortet.
Logischerweise.
Und dann hat er sich in einem morschen Ast verfangen, der da mitten in der Strömung im Bach liegt. Da vorn, auf fast 12 Uhr. Siehst du den? Als ich da mit dem Fernglas hingeschaut habe, saß da noch ein Eisvogel drauf. So ein kleiner, hübscher, auf Durchreise wahrscheinlich. Die sieht man auch nicht so oft in unseren Breiten. Ist ja auch zu kalt bei uns im Winter. Na ja. Jedenfalls habe ich dann also beschlossen, deinem Klienten zu helfen; habe mir ein Seil aus der Scheune geschnappt, es mit einem Doppelknoten um den Baumstamm dieser Buche hier festgemacht, das andere Ende mir um den Brustkorb gebunden und bin ins
Weitere Kostenlose Bücher