Zuckerleben: Roman (German Edition)
Kriminalfahndungsabteilung der Miliz. Außerdem: Habe ich ihn umgebracht? Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Du auch nicht. Wovor hast du also Angst? Wir sagen den Milizionären die Wahrheit, und die sollen dann Hlebniks Leiche abtransportieren. Dann haben wir den toten Zuckerfabrikdirektor vom Hals. Die sollen sich doch das Hirn ausquetschen, wer ihn umgebracht hat. Ist doch ihre Arbeit.«
»Die werden bei dir anfangen, mit dem Hirn-Ausquetschen, Roma.«
»Was? Wieso?«
»Wenn ich dich richtig verstanden habe, Roma, besteht deine Strategie darin, die Bullen zu rufen – und wir reden hier von so ein paar bodenständigen, schlecht bezahlten moldawischen UGRO -Typen, die man erst mal überreden muss, ihre Kaserne hinter dem Fleischkombinat freiwillig zu verlassen und ihr Benzin mit so einer Geschichte zu verpulvern. Aber sei’s drum. Mal angenommen, die lassen sich darauf ein, steigen in ihren zusammengeflickten UAS -Kleinbus und kommen her. Dann zeigst du ihnen die Leiche und verkündest, Hlebnik sei hier einfach tot in einem unbekannten Fischerboot mit dem Zivilgesetzbuch der U d SSR im Schaft seines linken Cowboystiefels vorbeigetrieben. Du hättest ihn zufällig entdeckt und an Land gezogen. Und zwar, weil du geglaubt hast, den Zuckerfabrikdirektor hätte es nach einer Ladung Schnaps gelüstet, die wir aus seinen 40 Tonnen Zucker im Tunnel zwischen seiner Nomenklatura-Datscha und der Zuckerfabrik von Dondușeni schwarz destillieren. Richtig?«
Roma Flocosu will etwas sagen, doch Ilytsch winkt ab.
»Nein, warte. Und dann. Dann wirst du den Bullen nebenbei den Tipp geben, die Fingerabdrücke von Hlebniks vermeintlichem Mörder auf der Seite mit dem Artikel 147 über unbeaufsichtigtes Vieh zu suchen. Habe ich dich so weit korrekt verstanden? Wie, glaubst du, wird ein bodenständiger, schlecht bezahlter moldawischer Milizionär darauf reagieren?«
Der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu steckt die ZGB -Broschüre in Hlebniks Jackentasche zurück, packt sein Stofftaschentuch ein, verschränkt die Arme und lehnt sich mit dem Rücken an die schattige Buche.
»Dann verrate mir bitte, Ilytsch, was du jetzt mit dem Toten vorhast. Und bedenke eines: Jetzt ist Wadim Wladimirowitsch noch frisch, aber schon sehr bald wird er nicht mehr so frisch sein.«
»Lass uns zuerst nachschauen, ob unter dem Direktor nicht etwas im Boot liegt.«
Der Held der sozialistischen Arbeit und der Ewig Hungrige Historiker Roma Flocosu drehen den Zuckerfabrikdirektor um und entdecken unter dem Dahingeschiedenen zwei Risse im Bootsrumpf, die es eigentlich zum Sinken hätten bringen müssen. Der qualitativ hochwertige Stoff von Hlebniks Kleidung hat offensichtlich die Risse gestopft und das Boot über Wasser gehalten. Und da liegt jetzt noch der Borsalino, Hlebniks Hut, im saftigen Gras der Uferwiese.
Wladimir Pawlowitsch streicht vorsichtig mit den Fingerkuppen über die Risse im Bootsrumpf:
»Womöglich war das Selbstmord. Überleg doch mal: Hlebnik sieht keine Perspektive mehr für sich hier in der Sowjetunion und beschließt, nach Amerika auszuwandern. Sein Amerika-Plan geht, aus welchem Grund auch immer, in die Hose. Das geht auf jeden Fall komplett schief. Hlebnik sieht sich in einer existenziellen Sackgasse, und das ist genau der Augenblick, in dem er sich sagt, dass er nicht mehr leben will. Dass es für ihn keinen Sinn mehr hat, weiterzumachen. Er nimmt sich ein schlechtes Boot oder beschädigt es mutwillig, damit es später sinkt, weil er vielleicht nicht will, dass seine Leiche gleich gefunden wird. Im Boot vergiftet er sich dann. Fertig. Alle Probleme radikal gelöst.«
»Und der Abschiedsbrief?«
»Er hat eben keinen hinterlassen.«
»Würdest du keinen Abschiedsbrief hinterlassen, wenn du vorhättest, dich umzubringen, Ilytsch?«
Der Held der sozialistischen Arbeit schweigt.
»Also, wenn ich mich in einen potenziellen Selbstmörder hineinversetze, dann stelle ich mir so einen Menschen wie jemanden vor, der sich in erster Linie unverstanden fühlt. Dieses Gefühl, unverstanden zu sein, erzeugt eine immer größer werdende Wut in ihm. Er ist nicht fähig, für diese Wut, für diese destruktive Energie, ein Ventil zu finden, um sie zu veräußerlichen. Also richtet er sie gegen sich selbst. Bis zum Selbstmord, im Extremfall. Stell dir also vor, du fühlst dich unverstanden. Du fühlst dich, als wolltest du unbedingt etwas loswerden, aber keiner hört dir zu. Du begehst Selbstmord, aus Wut und Verzweiflung und um dich
Weitere Kostenlose Bücher