Zuckerleben: Roman (German Edition)
an den anderen und an der Welt zu rächen, dafür, dass sie dir nicht zugehört haben. Durch deinen Selbstmord gerätst du plötzlich in die Mitte der Aufmerksamkeit, für kurze Zeit zugegebenermaßen, ja, aber trotzdem. Für diese Zeit, wo du in der Mitte der Aufmerksamkeit bist, will dir jeder zuhören. Jeder hört dir zu. Mit einem schlechten Gewissen sogar. – Würdest du dich dann dafür entscheiden, zu schweigen?«
Der Zuckerfabrikrentner verliert ein bisschen Farbe im Gesicht und murmelt etwas Unverständliches vor sich hin.
Flocosu winkt ab.
»Außerdem, wie passt das ZGB in deine Selbstmord-Theorie? Der Artikel 147? Und der Borsalino? Ich glaube, Hlebnik hat nie Borsalinos getragen. Oder? Warum also jetzt damit anfangen?«
»Sag du’s mir.«
»Ich denke, dass es kein Suizid ist. Und auch kein Mord, der einen Selbstmord vortäuschen sollte. Oder ein Unfall. Und ich glaube auch nicht, dass Hlebnik Opfer eines Raubüberfalls geworden ist.«
»Was ist es dann?«
»Es ist eine Nachricht.«
»An wen?«
»An uns.«
»Und wie lautet die Nachricht?«
»Verpisst euch.«
»Verpisst euch?«
Roma Flocosu starrt auf einen Punkt irgendwo tief im Dickicht des Dondușenier Forstes und bewegt ein wenig die Lippen, als würde er dort im Gestrüpp etwas Aufschlussreiches lesen können.
»Ich würde mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen, es als ein resolutes VERPISST EUCH! auszulegen.«
»Aha. Das hat dir jetzt Hlebniks Hut gesagt, oder wie?«
»Auch. Aber das habe ich dem Gesamtbild der Nachricht entnommen. Ich habe die Botschaft in ihre Bestandteile aufgeteilt und festgestellt, dass die Nachricht folgende vier Schlüsselelemente enthält:
1.) Zuckerfabrikdirektor Hlebniks Anwesenheit hier als schwimmender Toter,
2.) amerikanische Cowboystiefel,
3.) ein ZGB-Artikel über unbeaufsichtigtes Vieh
und
4.) ein Borsalino, den Hlebnik wahrscheinlich zu Lebzeiten nicht getragen hat.
Fangen wir beim Zentralelement der Nachricht, also beim unbeaufsichtigten Vieh, Artikel 147 des ZGB der Moldawischen SSR , an: Das unbeaufsichtigte Vieh steht für ein Gut, eine Gabe, die einem zugelaufen ist. So verstehe ich das zumindest. Das unbeaufsichtigte Vieh kann und ist wahrscheinlich eine Anspielung auf die 40 Tonnen Zucker, auf die Zuckerfabrik, auf Hlebniks Datscha und den Tunnel zur Zuckerfabrik oder auf die Gesamtheit dessen, was ich der Einfachheit halber als ›Hlebniks Gaben‹ umschreiben würde. Hlebniks Gaben, also metaphorisch das unbeaufsichtigte Vieh, ist uns zugelaufen. Wir haben das Vieh angenommen. Obwohl es nicht unser Vieh ist.
Verständlich? Durch den Artikel 147 werden wir gebeten,
a) das uns zugelaufene Vieh, also Hlebniks Gaben, dem rechtmäßigen Besitzer, also unseres Wissens nach Wadim Wladimirowitsch Hlebnik, zurückzugeben.
Oder:
b) innerhalb von drei Tagen bei der Miliz oder beim Exekutivkomitee des Dorfsowjets der Deputierten der Werktätigen Anzeige zu erstatten, dass sich das Tier, also Hlebniks Gaben, bei uns befindet.
Hier ist die Aufforderung des Nachrichtensenders an uns auf den ersten Blick zweideutig. Durch Hlebniks Anwesenheit hier als Toter, also Element 1.) der Nachricht, wird jedoch klar, dass wir Punkt b) erfüllen müssen, da Punkt a) ad hoc außer Kraft getreten ist.
Das heißt, wir haben drei Tage Zeit, Hlebniks Gaben bei den Behörden zu melden, die dann, davon gehe ich aus, das unbeaufsichtigte Vieh, also Hlebniks Gaben, in Pflegschaft nehmen werden.
Die anderen drei Elemente dienen dazu, uns zu veranschaulichen, was passiert, wenn wir den Aufforderungen des Nachrichtensenders nicht nachkommen, wobei ich hier natürlich den Einsatz des Borsalinos besonders raffiniert finde.
Aber zurück zu Element 1.) und 2.) der Nachricht. Der Zuckerfabrikdirektor Hlebnik und, wenn wir’s genau nehmen, Zweiter Sekretär des Rayonskomitees der KP d SU des Rayons Dondușeni, also ein Nomenklatura-Mitglied, taucht hier vor deiner ausgelagerten Schnapsbrennstation auf. Tot. Das ist kein gutes Zeichen. Zudem wissen wir, dass Hlebnik vorhatte, nach Amerika auszuwandern.
Element 2.), die amerikanischen Cowboystiefel. Er hat sie schon angehabt, also stand er vermutlich kurz davor, auszureisen, wurde aber im letzten Augenblick gestoppt. Und getötet. Warum? Hlebniks Gaben, also sein ›unbeaufsichtigtes Vieh‹ in Anführungsstrichen, haben ja wir an uns genommen, warum also Hlebnik dafür bestrafen?
Weil er nichts gegen die Erstürmung der Zuckerfabrik unternommen hat? Aber es
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