Zuckerleben: Roman (German Edition)
selbstgebrannte Schnaps ansetzt, glänzen die Sonnenstrahlen und vermischen sich mit dem Samagon, den sie erleuchten, als würden sie sich selbst mit der anarchistischen Begeisterung einer Meute Fünftklässler am Hochprozentigen betören.
Der EHH R. F . überlegt, wie es sich anfühlen würde, einfach in den Alkoholbottich hineinzuspringen und sich vom Samagon die Poren ein wenig kühlen und desinfizieren zu lassen. Gewiß hätte ein ausgewachsener Bürger Platz darin, wenn nicht sogar zwei, denkt sich der Akademiker und nimmt ein leistungsstarkes Kommandantenfernglas der Sowjetischen Armee zur Hand. Er richtet es auf die etwa 50 Meter entfernte Flussbiegung und lässt das Fernglas von links nach rechts in Fließrichtung des Baches gleiten, als müsste sich etwas essenziell Wichtiges dort im Strömungsbereich des Fließgewässers ereignen. Oder vor Kurzem ereignet haben. In Flocosus Sichtfeld ist nichts zu sehen – nur trübes Wasser, ein morscher Ast, der gegen die schwache Strömung ankämpft, und auf dem Ast ein gelangweilter Eisvogel, der lustlos durch die Gegend schaut, als würde er auf den Bus warten. Dahinter rascheln die Blätter der lichten Eichenfront im Dondușenier Wald, aus dem heraus gar nicht so selten Muffelwild und gestresste Wildsäue mit ihren gehorsamen Frischlingen den gelegentlichen Automobilisten auf der Straße nach Otaci erschrecken. Sonst nichts.
Die Schnapsbrennanlage verrichtet mit seligem Brausen und Brummen ihre Arbeit und tropft das Resultat ihrer Mühen selbstlos über einen 2,50-Meter-Schlauch in eine weiße Kinderbadewanne hinein. Der EHH R. F. springt auf, tritt aus der türlosen Scheune der ausgelagerten Schnapsbrennstation hinaus und schickt sich an, nach dem Helden der sozialistischen Arbeit zu rufen, als er plötzlich erstaunt innehält.
»Tut das nicht weh?«, fragt Flocosu stattdessen und bestaunt Wladimir Pawlowitsch bei seinem Tun. Der Held der sozialistischen Arbeit steht fünf bis sechs Meter von der Schnapsbrennanlage entfernt, barfuß, in einer Schlammpfütze, zwei volle Wassereimer neben sich, und drischt mit einem Brennnesselbündel in jeder Hand auf den eigenen nackten Oberkörper ein, und das mit dem Eifer eines religiösen Fanatikers. Der dank Krise rentenfreie Pensionist hält kurz inne und dreht sich Flocosu zu.
»Freilich tut das weh. Das brennt wie Sau.«
»Und warum machst du das?«
Ilytsch sieht den Ewig Hungrigen Historiker an wie ein Mensch, der nicht recht weiß, ob die Frage seines Gegenübers ernst gemeint ist oder nicht.
»Es hilft ausgezeichnet gegen Rheuma, Junge. Und baut den Stress ab. Der Ursprung aller Krankheiten, Roma, ist nämlich die Abwendung des Menschen von der Natur. Der Mensch denkt heutzutage nur daran, sich von innen mit viel Nahrung und von außen mit Wärme und Komfort zu umgeben. Das führt zu Depression, Krankheit und Tod. Schau dir Tutunaru an. Ständig lief er wie auf Nadeln und bestellte bei mir immer mehr Schnaps, damit er die Italien-Visa besorgen konnte. Ich habe ihm gesagt: ›Pitirim, mach dir keine Sorgen‹, und habe erst mal für ihn den Samagon zubereitet. Habe ich etwa für mich schon Samagon gebrannt? Nein, für mich habe ich noch fast gar nichts destilliert. Jetzt hat Tutunaru seinen Schnaps bekommen, mehr als 2000 Liter, und was? Ist der Junge jetzt zufrieden? Nein, er ist nicht zufrieden. Jammert rum, dass es das falsche Visum sei. Jetzt will er mehr Schnaps, um Wertgegenstände zu besorgen. Und wenn er die hat, wird er etwas anderes finden, da wett ich mit dir. Und so ist der Mensch unserer Zeit, unzufrieden von der Wiege bis ins Grab. Ständig passt ihm irgendwas nicht. Ständig meint er, irgendjemandem gehe es besser als ihm und die Welt habe sich gegen ihn verschworen.«
Der Held der sozialistischen Arbeit drischt noch ein paarmal mit den Brennnessel-Bündeln auf seinen nackten Oberkörper ein und legt sie ab. Dann nimmt Wladimir Pawlowitsch einen Eimer Wasser und schüttet ihn sich über den Kopf, vollführt mit dem zweiten Eimer die gleiche Prozedur und gurgelt dabei laut auf.
»Und was schlägst du vor, Ilytsch?«
»Was ich vorschlage? Eine Banja wär jetzt nicht schlecht. Und ein Stück Pöckelspeck mit einer grünen Salztomate und einer herzhaft vollbusigen Kameradin dazu, um das sozialistische Leben gemeinsam zu zelebrieren!«
Der Rentner torkelt zur Scheune, von Roma Flocosu dicht gefolgt. Der promovierte Historiker holt den Helden der sozialistischen Arbeit ein, bleibt vor ihm
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