Zuckermacher 01 - Die Schwester der Zuckermacherin
bei den Gräbern dieser Kinder sprechen.«
Wir nahmen eine rote Rose für Mrs. Williams mit sowie drei rosa Rosen, eine für Kate, eine für Jacob und eine für Marie, und gingen damit zum Friedhof. Obwohl es ein warmer Abend war und noch nicht dunkel - auf unserem Weg dorthin hatte der Nachtwächter die achte Stunde ausgerufen -, war kaum jemand unterwegs.
»Alle bleiben zu Hause«, sagte Sarah. »Und hast du bemerkt, wie die Leute auf der Straße jetzt versuchen, einander zu meiden?«
Ich nickte, denn es war mir bereits in den letzten ein oder zwei Wochen aufgefallen, dass die Leute eher in die Schmutzwasserrinne in der Mitte der Straße traten, als jemandem von Angesicht zu Angesicht und in Reichweite seines Atems gegenüberzustehen, der vielleicht von der Krankheit befallen war.
Auf dem Weg sprachen wir über unsere Familie in Chertsey und hofften sehr und beteten beide, dass die Pest nicht bis dorthin vordringen würde.
»Und selbst wenn ich eine Gesundheitsbescheinigung hätte, wie könnte ich denn jetzt noch nach Hause gehen?«, fragte ich Sarah. »Es könnte sein, dass die Pest in meinen Kleidern steckt«, sagte ich und sah an mir herunter. »Ich könnte sie von London mit nach Hause nehmen und unsere Geschwister damit anstecken.«
Sarah schüttelte langsam den Kopf. »Nein, wir sind wohl beide dazu verdammt, hier zu bleiben, solange die Pest anhält, also müssen wir zusehen, dass wir alle Regeln befolgen. Wir müssen den Zugang zu unserem Geschäft reinhalten und darauf achten, dass wir nichts Ungesundes essen. Wir müssen unseren Körper jeden Abend genauestens auf Anzeichen von
Flecken oder Beulen hin untersuchen. Außerdem werden wir einen Rosmarinzweig kauen, wenn wir aus dem Haus gehen, und wir werden einen Trank einnehmen und uns einen ABRAKADABRA-Talisman anfertigen, denn ich habe gehört, dass sie besonders wirkungsvoll sein sollen.«
Ich nickte. »Und noch etwas: Als ich beim Kaufladen war, musste ich die Münzen, mit denen ich bezahlt habe, in einen Essigkrug werfen.«
Sarah nickte. »Dann werden wir unsere Kunden auch alle darum bitten«, sagte sie. »Wenn wir uns gut in Acht nehmen, können wir beide überleben.«
Ich lächelte und drückte ihre Hand. Ich war voller Zuversicht und konnte mir nicht vorstellen, dass ich sterben würde, denn ich hatte allen Grund zu leben.
Als wir uns unserer Pfarrkirche näherten, läuteten die Glocken Trauer, und eine hohe Wachskerze brannte über dem kleinen überdachten Kirchhofseingang. Weil wir Geräusche hörten, schauten wir über die Mauer und erblickten vier Männer, die ein großes Loch aushoben. Daneben war eine Plane ausgebreitet, auf der - mir stockte das Herz - sieben Leichen lagen. Sie befanden sich nicht in Holzsärgen, sondern waren in grobe Leichenhemden gewickelt, die oben und unten mit einem dicken Knoten versehen waren.
Ich klammerte mich an Sarahs Hand, nickte in Richtung der Leichen, und meine Zähne fingen vor Schreck an zu klappern. Ich hatte schon früher Tote gesehen, aber immer nur einen auf einmal, außerdem waren sie alle gewaschen und ordentlich hergerichtet, hatten die Arme über der Brust gekreuzt und lagen in Särgen aus Kiefernholz. Diese Leichen jedoch waren einfach nur lieblos auf einem Haufen gestapelt wie trockenes Brot.
»Wären wir doch bloß nicht gekommen!«, sagte Sarah mit leiser, zitternder Stimme. »Wären wir diesem schrecklichen Anblick doch bloß ferngeblieben!«
»Glaubst du, dass ... sie es sind?«, fragte ich und wies mit dem Kopf in Richtung der Leichen.
»Vielleicht«, flüsterte sie, »sie und noch ein paar andere.«
»Vielleicht ist die Familie aber auch gestern beerdigt worden«, sagte ich und warf einen Blick auf den Friedhof. »Sieh dir nur all die neuen Grabhügel an!«
Es gab viele Haufen frisch aufgeworfener Erde, aber man konnte nicht erkennen, wie viele Leichen darunter begraben lagen. Uber den ganzen Friedhof war eine Art weißes Pulver gestreut worden, das den Boden wie Schnee bedeckte.
»Es ist Kalk«, antwortete Sarah auf meine Frage. »Kalk, um die Seuche aufzuhalten und die Leichen schneller... schneller...« Sie schauderte und konnte ihren Satz nicht beenden.
Die Männer gruben stetig weiter. Sie schaufelten die Erde auf eine Seite und sangen bei der Arbeit zotige Lieder. Uns beachteten sie überhaupt nicht.
»Sollen wir... sollen wir sie fragen, ob die Leichen, die sie beerdigen, die der Familie Williams sind?«, fragte ich.
Sarah schüttelte den Kopf. »Sie haben
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