Zuckerpüppchen - Was danach geschah
vorbereitet worden. Man hatte ihnen in der Informationsstunde die Apparatur auf der Intensivstation erklärt, die Schläuche und Kanülen, an denen der frisch operierte Patient angeschlossen und durch die er die ersten kritischen Tage am Leben erhalten wurde. Und doch schwappte eine Welle von Mitleid über Gaby zusammen, am liebsten hätte sie sich auf das Bett geworfen und sein fahles, graues Gesicht mit Küssen bedeckt, ihn immer wieder um Verzeihung gebeten, was auch immer sie verkehrt gemacht hatte, ihm alle lieben Dinge zugeflüstert, die ihr sonst oft im Halse steckenblieben. “Er wird gleich wach”, sagte die Schwester, und Gaby erschrak. Wie laut sie sprach! Sie zog einen Stuhl dichter ans Bett und fühlte, wie ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Er sah so hilflos aus, so schwach. Der Schlauch des Sauerstoffgerätes im Mund, dünne Kanülen führten in die Nase, in jeder Hand eine Infusion, die Brust bis unter die Achseln bandagiert, die Füße mit Mullstreifen am Bett festgebunden. Ihr großer, lieber Mann, vollkommen ausgeliefert an andere Menschen. Jemand legte eine Hand auf ihre Schulter. Die Schwester. “Er merkt nichts davon. Er hat auch keine Schmerzen. In den Infusionen sind stark betäubende Mittel.”
Ingrid nickte ihr aufmunternd zu. Sie hielt sich im Hintergrund.
“Nehmen Sie seine Hand. Reden Sie mit ihm. Sagen Sie, er soll den Druck Ihrer Finger erwidern.” Sie nahm seine Hand und erschrak vor der Kühle seiner Finger. Sie erinnerte sich, daß der Chirurg ihnen erklärt hatte, daß die Körpertemperatur während der Operation sehr niedrig gehalten würde. Sie hatte vergessen, warum. Es war auch nicht mehr wichtig. Die Operation war vorbei. Vorsichtig rieb sie seine Finger, wie sie im Winter die Finger von Alex gerieben hatte. “Drücken Sie seine Hand”, wiederholte die Schwester. Vorsichtig umfaßte Gaby seine Finger. Wie sehr sie seine Hände vom ersten Moment an geliebt hatte. So schmale, feine Finger, wohlgeformte Nägel, blasse Halbmonde. “Mein Liebling”, flüsterte sie. “Oh, mein Liebling.” Es war, als hätte sie die Worte geschrien. Mit einem Ruck schlug er die Augen auf, sah sie starr an. Die Schwester beugte sich vor. “Herr Gerken, Ihre Frau ist hier. Sie hält Ihre Hand. Drücken Sie sie, wenn Sie es können.” Sein Lächeln war unnachahmlich. Der Schlauch in seinem Mund gab ihm etwas Verwegenes. Wie eine dicke Zigarre, die er in die Mundecke geschoben hatte. Er drückte ihre Hand. Ganz langsam. Er war wieder da.
In dem anschließenden Gespräch mit dem Chirurgen hörte sie, daß die Herzklappe repariert worden war. Keine künstliche Herzklappe. “Das Gewebe sah so aus, daß wir es gewagt haben. Wir hoffen, daß es die richtige Entscheidung war. Ihrem Mann geht es den Umständen entsprechend gut. Ein kritischer Punkt ist die eigene Atmung. Wenn er wieder alleine atmen kann, haben wir die erste Hürde genommen.”
Gaby nickte, versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren und dachte doch immer nur an Hubert. Wie hilflos er ausgesehen hatte und wie tapfer er gelächelt hatte. Wie ein Junge, der stolz auf seinen letzten Streich war. “Ich danke Ihnen”, sagte sie, als der Arzt endlich schwieg und stand auf. Sie wollte zu Hubert. “Sie sollten sich ein wenig entspannen”, sagte der Doktor und nahm ihre Hand. “Ihr Mann schafft das schon.”
So sah es aus.
Abends, Gaby war jetzt schon zwölf Stunden im Krankenhaus, kam Jean. Sie umarmte sie, und Gaby fühlte wieder Tränen in sich aufsteigen. “Ich habe reichlich dicht am Wasser gebaut.” Verlegen wischte sie ihre Augen. “Ich bin so froh, Jean. Alles ist gut.” — “Na also. Gott sei Dank. Ich sagte doch, Unkraut vergeht nicht.” Sie streichelte Gaby über den Rücken. “Ich war noch bei dir zu Hause, habe die Pflanzen versorgt, den Briefkasten geleert. Da war noch etwas für dich.” Sie reichte Gaby ein kleines, braunes Päckchen. Gaby las halblaut den Absender; es war der Verlag, der ihr Buch veröffentlichen wollte. Sie schluckte. “Das ist vielleicht mein Buch. Ich meine, mein erstes Buch.” — “Soll ich?” Jean nahm ihr das Päckchen aus der Hand, der Klebestreifen ließ sich nur schwer ablösen. Das geöffnete Päckchen gab sie ihr zurück. Ingrid, die auch noch da war, beugte sich vor. Langsam glitten zwei Bücher in Gabys Schoß. Zögernd nahm sie eins in die Hand. Ein harter, fester Umschlag, Kinder, die lachend um eine Geburtstagstorte herum saßen. Ihr Buch. Rechts oben stand
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