Zuckerpüppchen - Was danach geschah
es sich anfühlte, ein Mann zu sein? Immer stark, überlegen und autoritär zu sein? War das nicht auch ein Käfig? Vielleicht auch ein Käfig aus Angst und Einsamkeit? Warum traute sich ein Mann nicht, schwach zu sein? Warum traute Hubert sich nicht, schwach zu sein? Ihre Angst lag in ihrer Jugend begründet. Sie war mit der Angst und der Einsamkeit groß geworden. Womit war Hubert groß geworden? Sie dachte an seine Mutter, seine Geschwister. Seine Mutter liebte ihn, liebte ihre Kinder über alles. Als Cornelia heiratete, fühlte sie sich von ihr im Stich gelassen, hatte sie gesagt. Bei den anderen Kindern war es nicht anders gewesen. Sie sah ihre Kinder als ihren Besitz. Sie hatte sie in den Nachkriegsjahren und später, als ihr Mann sie verlassen hatte, mit vielen Sorgen großgezogen. Dafür erwartete sie lebenslange Dankbarkeit. Hubert zollte ihr diese Dankbarkeit. Jeden Tag rief er sie von der Firma aus an. “Eine kleine Mühe”, sagte er. Aber war es nur das? Brauchte er nicht auch das Gefühl, daß er das Wichtigste im Leben seiner Mutter war? Er hatte Gaby erzählt, daß er seine Mutter, nachdem sein Vater die Familie auf so dramatische Weise verlassen hatte, neun Monate lang versorgt hatte. Seine Mutter hatte sich ins Bett gelegt und war ein Dreivierteljahr lang nicht mehr aufgestanden. Drei jüngere Geschwister waren da zu versorgen gewesen, ein Haus und ein großer Garten. “Ich war gerade achtzehn”, hatte Hubert gesagt und: “Es war nicht einfach.” Gaby fragte sich, wieweit die Versorgung seiner Mutter gegangen war. Ein Junge von achtzehn, der seine Mutter waschen und pflegen mußte, ihr das Essen ans Bett brachte? Sie hatte ihren ältesten Sohn als Ersatzmann eingesetzt. Er war jetzt der Mann im Haus. Er mußte sich um alles kümmern. Sie konnte es nicht. Sie war schwach, hilflos, lag apathisch im Bett.
“Hattest du nicht manchmal eine Riesenwut?” hatte Gaby ihn gefragt. “Du warst doch noch viel zu jung für diese Verantwortung.” Hubert hatte sie, nicht begreifend, angesehen. “Ich war der Älteste. Ich habe ihr schon von klein auf zur Seite gestanden. Als mein Vater im Krieg war, als mein Großvater starb. Ich war dann der älteste Gerken. Es war an mir, die Verantwortung zu übernehmen. Als ich heiratete und aus dem Haus ging, hat mein Bruder Berthold meine Aufgabe übernommen.” Gaby fragte sich, warum seine Mutter nicht die Verantwortung übernehmen konnte. Waren halbwüchsige Jungen eher in der Lage, Verantwortung zu tragen, als eine erwachsene Frau? Das war ja wie im Orient, wo die Söhne die Macht übernahmen, wenn der Vater durch Tod oder Krankheit ausfiel. Aber Huberts Mutter hätte sich anders entscheiden können. Keine moslemische Ordnung, die sie in diese Abhängigkeit brachte. Wollte sie schwach sein, um ihre Kinder an sich zu binden? Und sie selbst, dachte Gaby mit Erschrecken, war sie schwach, weil sie glaubte, sie würde sonst Hubert verlieren? Nein, nein, das ist nicht wahr: Ich versuche, stark zu sein. Ich bin in Therapie, um meine Vergangenheit zu bewältigen. Ich lerne, ich habe mein erstes Buch in Händen, ich versuche, selbst Dinge zu tun. Hubert hat sich nur so daran gewöhnt, alles zu regeln und zu bestimmen, er kann schon beinahe nicht mehr anders. Ich muß mit ihm darüber reden. Ihn davon befreien, immer stark und mächtig zu sein. Was muß das für ein Druck für ihn sein! Er muß ja einen Haß auf Frauen bekommen, die ihn in dieses stählerne Korsett zwingen. Vielleicht glaubt er, ich würde ihn weniger lieben? Vielleicht fühlt er sich zu verletzlich?
Gaby kuschelte sich in ihr Bett wie in eine kleine, geschützte Höhle. Ich werde mit ihm reden. Wenn es ihm wieder besser geht, werde ich mit ihm reden. Vielleicht wird alles einfacher, wenn er diese Operation überstanden hat. “Für viele Menschen ist so eine Operation ein Wendepunkt in ihrem Leben”, hatte der Arzt in der Informationsstunde auch gesagt. “Sie erkennen, wie kurz das Leben sein kann. Sie versuchen noch einmal, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Sehen Sie das als gemeinsame Chance.” Ja, sie wollte versuchen, ihrem Leben einen anderen Sinn zu geben. Sie wollte neben ihm stehen, nicht mehr unter ihm. Als Partner durch dick und dünn mit ihm gehen. Vielleicht würde das auch für Hubert eine Erleichterung bedeuten.
Nach fünf Tagen konnte Hubert von der Intensivstation in ein normales Zimmer verlegt werden. Eine Wundblutung und Probleme mit der Atmung hatten noch für einige
Weitere Kostenlose Bücher