Zuckerpüppchen - Was danach geschah
glitten an ihnen vorbei, der leichte Fahrtwind streichelte ihr Gesicht. Alex jauchzte vor Vergnügen. “Mehr”, rief er. “Ich will mehr.” Und wieder und wieder stieg sie den Berg hinauf, um für einige Minuten dieses Glücksgefühl auszukosten, um frei und unbeschwert mit ihrem Kind zu lachen. Ihre Haut prickelte, und jede Pore öffnete sich der fahlen Wintersonne entgegen. Ich kann es, dachte Gaby, ich kann wirklich leben, fühlen, genießen. Auf dem Weg zurück ins Hotel verschwand die Sonne, und sie fühlte, wie sich wieder die dunkle Wolke von Trauer und Nicht-Begreifen über sie ausbreitete. Sie hatten Telefon im Zimmer, ein angenehmer Komfort. Warum hatte sie Hubert schon einige Male den Telefonhörer aus der Hand legen sehen, wenn sie in die Empfangshalle kam? “Ich mußte noch schnell in der Firma anrufen”, murmelte er, rieb sich seine Nasenspitze, und nach einem Blick auf die Uhr, es war schon sieben Uhr abends, “privat, bei Mulders.” Um dann auch gleichzeitig den Kopf zu schütteln und hinzuzufügen: “Was du immer denkst.” Wenn sie bis dahin noch nichts gedacht hatte, so kamen die Gedanken dann unweigerlich. Warum verbreitete er, bewußt oder unbewußt, immer wieder den Schein des Verdachts um sich herum, säte er selbst das Mißtrauen? Sie rüttelte an der Mauer, fragte ihn, was sie verkehrt machte, und er antwortete, da sei nichts, sie bilde sich das nur ein, und sie solle doch, um Himmels willen, nicht immer so schwierig tun.
“So langsam muß deine Therapie doch Früchte tragen”, sagte er, “mußt du doch dein Mißtrauen abbauen.” Ihre Therapie hatte schon Früchte getragen, aber noch nicht genug. Ihre Migräneanfälle waren vorbei. Auf einmal, als Jaap sie danach gefragt hatte, stellte sie erstaunt fest, daß sie schon monatelang keine Migräne mehr gehabt hatte. “Ein Fortschritt”, sagte Jaap. “Dein Kopf wird langsam frei.” Aber das Zittern blieb. Kleine, übersehbare Situationen hatte sie besser im Griff. An der Kasse des Supermarktes zu stehen, das war zu ertragen, wenn sie sich auf andere Dinge konzentrierte, zum Beispiel auf die Frau vor ihr, wie gebückt die ging, warum sie wohl einen so grellen Lippenstift benutzte und ob das Kind ihr eigenes war, das schläfrig in dem Kinderwagen saß. Ein volles Restaurant, sich den Weg durch dicht beieinander stehende Tische bahnen zu müssen, war noch immer ein Spießrutenlaufen, rief riesengroße Panik hervor. Aber dann war Hubert da, stark und standfest. Ihre Träume blieben blutig, gewalttätig, doch sie war nie mehr das Opfer. Es war in Winterberg, als Hubert ihr das erste Mal einen seiner Alpträume erzählte. Oft träumte er von Krieg und Gewalt, “Quatsch”, wie er es nannte, “weil das ja alles schon lange vorbei ist.” Ein Traum war anders, er kam immer wieder und versetzte ihn sichtlich in Schrecken. “Ich fahre mit Alex und Daniel in einem Boot. Das Wetter ist gut, doch ganz plötzlich, aus heiterem Himmel, bricht ein Sturm los. Wir kentern. Ich schwimme und sehe die Jungens nicht weit entfernt von mir. Ich will auf sie zu schwimmen, aber ich komme keinen Meter voran. Und dann”, seine Stimme war ganz monoton, “sehe ich, wie sie vor mir in den Fluten versinken. Und ich kann nichts tun. Sie sind fort, und dabei waren sie so dicht bei mir.” Gaby versuchte ihn zu beruhigen, Träume seien Schäume, das hätte er selbst immer gesagt, und beide Jungen könnten schwimmen, und wenn sie in Zukunft aufs Wasser gingen, würden sie die beiden in Schwimmwesten stecken. Er lächelte über ihre Bemühungen, ihn zu trösten. “Natürlich”, sagte er. “Wahrscheinlich habe ich etwas gelesen, das ich jetzt auf unsere Jungens beziehe. Kein Grund zur Sorge.” Aber der Traum ließ ihn nicht los.
Später, als seine Kinder ihm entglitten, fragte sie sich oft, ob er nie, nicht einmal für sich selbst, einen Zusammenhang gesehen hatte. Zwischen dem, was er tat, und seinen Träumen. Hatte er auch sich selbst belogen?
“Fahr du nur zu deinem Bruder. Meine Mutter wollte sowieso im Januar kommen. Sie sorgt gerne für mich.” Gaby versuchte, jedes bittere Gefühl zu unterdrücken. Sie mußte froh sein, daß Hubert sie wieder für einige Tage nach Hamburg fahren ließ. Es war in den letzten Jahren schon beinahe zur Tradition geworden, daß sie einmal im Jahr “Eheurlaub” bekam. Ein paar Tage ohne die Kinder und ohne Hubert. Natürlich rief Hubert jeden Abend an, versicherte ihr, wie sehr er sie vermißte, und Daniel und Alex
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