Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Schlitten fahren, lange Spaziergänge machen, miteinander reden. Sich ganz dicht beieinander fühlen.
Beinahe übermütig packte sie die Koffer, die Festtagskleidung, den kitschigen kleinen Nepp-Tannenbaum, die schon eingepackten Geschenke. Natalie und Manfred kamen auch. Ohne ihre “Großen” hätte sie sich wahrscheinlich doch schuldig gefühlt. Eine Mutter, die Weihnachten nicht zu Hause zur Verfügung steht, das ginge dann doch zu weit.
Manfred hatte seinen Liebeskummer anscheinend überwunden, er sprach kaum noch darüber, aber seine Gesicht war blaß und schmal geworden. Auch über sein Studium sprach er kaum.
Natalie war seit zwei Monaten von ihrer halben Weltreise zurück, und Gaby hatte ihre Tochter überglücklich in die Arme geschlossen.
“Du glaubst nicht, was ich mir für Sorgen gemacht habe. Besonders, nachdem du geschrieben hast, daß du dich von Klaas getrennt hast. Ein Mädchen allein, was hätte dir nicht alles passieren können.” Da war er wieder, dieser Satz, und Gaby schluckte erschreckt, aber Natalie lachte, ließ sich ihre Umarmung gefallen, braun, abgemagert durch monatelange Durchfälle und doch zufrieden. Später kamen sie noch einmal auf die Gefahren zu sprechen. Hubert begann wieder Spott mit ihr zu treiben. “Deine Mutter ging so weit, daß sie nachts von dir träumte. Sie weckte mich und behauptete, dir sei etwas zugestoßen.” Natalie setzte ihr Glas Wein auf den Tisch. “War das vielleicht, kurz bevor ich euch aus Hongkong anrief?” — “Ja”, sagte Gaby, “genau zwei Nächte davor. Ich hatte das Gefühl, daß du mich riefst. Du strecktest die Hand nach mir aus und weintest und riefst mich. Ich hatte solche Angst um dich.” Natalie sah sie groß an, so als müßte sie das Gehörte gut in sich aufnehmen. Gaby wurde verlegen unter ihrem Blick. “Na ja, du weißt ja, ich habe eine blühende Phantasie. Ich habe wahrscheinlich am Abend vorher den einen oder anderen Gruselfilm gesehen.” Sie wußte, daß das nicht wahr war. “Nein”, sagte Natalie langsam, “ich glaube nicht, daß du so eine blühende Phantasie hast. Vielleicht mehr eine gute Intuition.” Und noch etwas erstaunt über ihre eigenen Worte und die Feststellung, fügte sie hinzu: “Und eine starke Bindung zu mir.” Langsam erzählte sie die Geschichte. Sie hatte sich schon einen Monat vorher von Klaas getrennt. Allein zog sie durch China. Erschrak über die Aggressivität und Gleichgültigkeit, die ihr in dem Land begegnete. Nicht gegenüber der Fremden, aber untereinander. Da wurde rücksichtslos um einen Platz im Bus gekämpft, auf dem Markt riß man einander die besten Stücke Fleisch beinahe aus der Hand, im Straßenverkehr und überall schien zu gelten: Der Stärkere kommt zuerst. Sie hatte sich an eine junge Chinesin angeschlossen, und zusammen wollten sie den Geburtsort der neuen Weggenossin besuchen. Die Zugfahrt dahin sollte einige Stunden dauern. Und in dem Zug geschah es. Wochenlange Regenfälle hatten einen Berghang aufgeweicht, und als der Zug um die letzte Biegung kam, löste sich eine gewaltige Schlammlawine und begrub vier Waggons unter Matsch und Geröll. “Der Strom fiel aus, wir hörten ein dumpfes Dröhnen, unser Waggon wurde von den Schienen gedrückt. Da lag ich im Dunkeln, begraben unter Koffern, Taschen, in Todesnot gackernden Hühnern und schnatternden Gänsen. Jede Sekunde erwartete ich eine Explosion, einen Knall, etwas Schreckliches.” Natalie dachte an das Entsetzen, die Todesangst. “Ja, und da habe ich nach dir gerufen. Immer wieder, wie ein kleines Kind.”
Gaby war aufgesprungen und hatte ihre Arme um Natalie gelegt. “Was mußt du ausgestanden haben. Ist dir nichts passiert?” Sie sah sie an, als könne sie jetzt noch Narben von dem Unfall entdecken. Einen Moment schmiegte sich ihre Tochter an sie, dann machte sie sich wieder gerade. “Ein paar Kratzer, nichts Besonderes. Viel schlimmer war, daß irgend so ein Schurke das Durcheinander und die Panik benutzt hatte, um mein Geld zu stehlen. Glücklicherweise war Liang auch nichts geschehen, und sie half mir weiter.” Gedankenversunken erlebte sie die Ereignisse noch einmal, fühlte erst die Todesangst, und dann langsam die Erleichterung, als sie feststellte, daß sie Arme und Beine bewegen konnte, daß sie noch glimpflich davongekommen waren. “In den ersten Minuten, als ich dich rief, da fühlte ich mich ganz dicht bei dir”, sagte Natalie, “ich war überzeugt, daß du mich hören konntest. Deshalb habe ich
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