Zuckerpüppchen - Was danach geschah
hat auf dem schwarzen Markt Essen für uns getauscht. Man sollte auch vergessen können.” Gaby sah in ihr Weinglas, in dem ein Stückchen Korken schwamm. Vorsichtig versuchte sie es mit dem Zeigefinger herauszufischen. Zwei, dreimal rutschte ihr das Korkstückchen wieder in den Wein, dann bekam sie es zu fassen. “Nein”, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt ganz ruhig. “Ich kann nicht vergessen. Ich bin in meiner Jugend mißbraucht und mißhandelt worden. Ich wäre lieber verhungert, wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen Verhungern und seiner ‘Sorge’. Ich will ihn nie wieder sehen.”
Die beiden lieben Menschen schwiegen betreten. Was sollten sie auch darauf sagen? Vielleicht fragen, was sie meinte, mit “mißbraucht und mißhandelt”? Achim war auch von ihm mißhandelt worden. Und doch hatte er verziehen! Hatte er es wirklich? Eines Tages, dachte Gaby, eines Tages werden sie wissen, warum ich ihm nicht die Hand reichen kann. Sie wußte noch nicht, daß sie eines Tages freiwillig Pappi gegenüberstehen würde.
Es ging Hubert nicht gut. Seit zwei Monaten arbeitete er wieder, erst halbtags, dann den ganzen Tag, aber es ermüdete ihn so sehr, daß er abends teilnahmslos am Tisch saß, vor sich hin starrte, nicht einmal sein Schnaps schmeckte ihm mehr richtig. “Es braucht halt alles seine Zeit, auch so eine vollkommene Genesung”, sagte er und versuchte daran zu glauben. Aber es ging ihm schlechter als in den ersten Monaten nach der Operation. Er wurde wieder kurzatmig, und sein Herz klopfte unregelmäßig, überschlug sich. Die Kontrolle bei der Herzspezialistin bestätigte Gabys Vermutung. “Leider, Herr Gerken, Ihre Herzklappe hat sich wieder gelöst. Die Operation war kein Erfolg.” Hubert war benommen. “Alles umsonst?” Die Ärztin nickte. “Es war ein Risiko, die Herzklappe zu reparieren. Der Chirurg hat das Risiko auf sich genommen, weil er glaubte, das Gewebe sei noch stark genug. Er hat sich geirrt. Ein Fehler? So eine Entscheidung muß innnerhalb von Sekunden getroffen werden, da ist keine Zeit für Gewebeproben.” Sie schwieg, gab Hubert Gelegenheit, das Gehörte zu verarbeiten. Gaby versuchte seine Hand zu nehmen, doch er schüttelte sie ab. “Und nun?” fragte er. “Eine neue Herzoperation”, sagte die Ärztin. “Und diesmal wird es eine künstliche Herzklappe. Mit so einer Herzklappe können Sie hundert Jahre alt werden. Die Nachteile einer künstlichen Klappe sind die das Blut verdünnenden Medikamente, die Sie Ihr Leben lang nehmen müssen. Blutverdünnend deshalb, weil es sonst vielleicht zu Blutgerinnseln kommen könnte.” — “Ich weiß”, sagte Hubert, der sich wieder gefangen hatte, “das haben wir vor der ersten Operation schon alles gehört.” Er setzte sich gerade hin. “Wann glauben Sie, wird die Operation stattfinden?” — “Sie brauchen jetzt nicht mehr so lange zu warten. Sie sind sozusagen ein Garantiefall. Nach den Sommerferien, denke ich.” Hubert wandte sich zu Gaby, lächelte. “Ist doch prima, dann können wir ja vorher noch in Urlaub fahren.” — “Ich weiß nicht”, Gaby sah zu der Ärztin. “Vielleicht sollten wir lieber in den Niederlanden bleiben.” — “Akute Gefahr besteht nicht”, meinte die Herzspezialistin, “aber überanstrengen Sie sich nicht. Denken Sie auch an den psychischen Aspekt.”
Hubert weigerte sich zuzugeben, daß es einen psychischen Aspekt gab. Er tat, als würde es sich tatsächlich nur um einen kleinen Irrtum handeln. “Schade, daß sie in meiner Brust keinen Reißverschluß eingebaut haben”, sagte er zu Ursel und Gerd, “dann könnte man den jetzt wieder aufmachen. Reißverschluß auf, Herzklappe rein, Reißverschluß zu.”
“Ja, so einfach geht es ja wohl doch nicht”, sagte Gerd. Ursel sagte nicht viel, saß blaß und schweigsam auf der Couch. Sie nimmt es sich auch zu Herzen, dachte Gaby. Frauen haben doch mehr Phantasie, die können so eine Operation nicht einfach so zur Seite schieben.
Hubert konnte es auch nicht. Sein Körper weigerte sich, das Theater mitzuspielen. Er bekam schwere Ischiasbeschwerden und mußte wochenlang das Bett hüten. Bei der kleinsten Bewegung hatte er wahnsinnige Schmerzen. Er lag im ersten Stock im Schlafzimmer und stöhnte. Wenn er nach der Operation ein schwieriger Patient war, so spielte er jetzt den Tyrannen. Er scheuchte Gaby unzählige Male die Treppen hinauf und hinunter, hatte an allem etwas zu mäkeln, kein Essen war ihm gut genug, es fehlte
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