Zuckerpüppchen - Was danach geschah
vollkommen unerwartet. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte sie nichts von ihren früheren Schulkameradinnen gehört, und jetzt lag eine Einladung zum fünfundzwanzigsten Klassentreffen vor Gaby auf dem Tisch. “Zum fünfundzwanzigsten Jubiläum unserer Mittleren Reife.” Wie das klang, eine Mittlere Reife. Gab es auch eine Hohe Reife? Gaby hatte nach der Abschlußprüfung alle Verbindungen mit ihren Schulkameradinnen abgebrochen. Ihr ganzes Bestreben damals war, zu überleben und so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen zu können. Da blieb neben der Lehrstelle zur Reedereikauffrau und der Berufsschule wenig Freizeit. Außerdem befürchtete sie, daß man hinter ihrem Rücken über sie tuscheln würde. Sie wollte nur nach vorne schauen. Alles, was hinter ihr lag, wollte sie vergessen. “PS”, stand unter der Einladung, “unsere Frau Moll kommt auch!” Vielleicht war es dieser Zusatz, der Gaby veranlaßte, die Einladung anzunehmen. “Natürlich”, sagte Hubert, großzügig wie immer, “fahr du nur nach Hamburg. Ich kann ein Wochenende mit den Kindern schon aushalten. Ursel hat bestimmt nichts dagegen, uns ein wenig unter ihre Fittiche zu nehmen.” Wie er das sagte! Gaby schluckte. Er betonte es gerade soviel, daß sie sich etwas dabei denken konnte, wenn sie wollte. Oder wollte er sie nur auf ihre eigene Schwäche aufmerksam machen? Letzten Sonntag waren sie wieder bei Ursel zum Kaffee eingeladen gewesen. Kuchen, Kaffee, das Übliche. Und doch war da die ganze Zeit etwas, das Gaby nicht mit Namen benennen konnte. Sie sah zu den beiden Menschen, die ihr soviel bedeuteten, ihrem Mann und ihrer Freundin, und fragte sich, was sie fühlte. Wieso glaubte sie, daß die Luft zwischen den beiden voll von Spannung, unausgesprochenen Wünschen und einem heißen Verlangen war? Sie taten doch nichts? Oder doch? Hin und wieder ein sekundenkurzer Blick, ein Finger, der beim Kaffee-Einschenken über die Hand des anderen ging, ein Lächeln, das einer Erinnerung zu gelten schien? Aber das war doch nicht möglich? Sie projizierte wahrscheinlich wieder ihre eigenen Ängste auf die Menschen, die ihr am meisten bedeuteten.
“Fühlst du dich nicht schuldig?” hatte Jaap sie gefragt. Doch, sie fühlte sich schuldig. Sie hatte sich immer schuldig gefühlt. Wie sie Mutti das hatte antun können. Wie sie sich so in den Schmutz hatte ziehen lassen können.
“Begreifst du nicht, daß du als Kind keine Chance hattest? Du konntest nicht weglaufen!”
Ja, das hatte sie spätestens nach ihrem mißglückten Ausreißversuch auf der Polizeiwache auch begriffen. Sie hatte nicht weglaufen können. Warum fühlte sie sich trotzdem schuldig?
“Weil Inzesttäter ihre Opfer zur Komplizin machen. Weil sie mit dem Täter ein Geheimnis haben. Weil sie sich mit Geschenken oder auch nur mit ein wenig Liebe und Zärtlichkeit haben bestechen lassen.” — Jaaps Erklärungen leuchteten ihr zwar ein, aber sie fühlte es anders. Außerdem, was hatte das alles mit ihrer heutigen Verfassung zu tun? Das alles war doch lange vorbei. Sie wollte überhaupt nicht mehr daran erinnert werden.
“Du mußt begreifen, Gaby, daß das alles mit dem zu tun hat, wie du dich heute fühlst. Man kann eine Vergangenheit wie die deine nicht einfach in eine Schublade tun, sie zumachen und sagen: das war’s. Aus und vorbei. Eines Tages springt die Schublade wieder auf. Wenn der Druck zu groß wird. Bei dir ist der Druck nach deinem Umzug in die Niederlande stets größer geworden.” — “Warum gerade dann?” Gaby sah keinen Zusammenhang. “Vielleicht, weil du dich ausgeliefert fühltest. Ausgeliefert an einen Mann in einer nicht besonders freundlichen, neuen Umgebung.” Gaby hatte Jaap von ihren ersten negativen Erfahrungen in den Niederlanden erzählt. “Aber das ist doch vorbei. Ich meine…“, sie stockte. Gerade in letzter Zeit spielte die Diskriminierung Deutscher wieder eine Rolle in ihrem täglichen Leben. Diesmal betraf es Daniel, der auf der Schule einen schweren Stand hatte. Jetzt war er der Mof. Vor Jahren Manfred, jetzt ihr kleiner Daniel, der mit seinem sonnigen Wesen am liebsten die ganze Welt umarmen wollte. Er begriff überhaupt nicht, worin er sich von seinen Klassenkameraden unterschied. “Und an Hubert habe ich mich doch ganz und gar freiwillig ‘ausgeliefert’ ”, fuhr sie fort. “Wenn man das überhaupt so nennen kann.” — “Würdest du es nicht so nennen?” Sie überlegte. Doch, es war eine Auslieferung gewesen. Sie hatte in
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