Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Moment verbunden ist. Und dann laß die Farbe ganz und gar durch dich hindurchströmen. Vom Kopf angefangen bis hin zu deinen Zehen. Bis du ganz und gar durchdrungen bist von dem wunderbaren Gefühl und der Farbe.” Und da wußte Gaby es wieder. Damals, als Hubert ihr gesagt hatte, daß er noch ein zweites Kind von ihr wollte. Damals war sie ganz und gar glücklich gewesen. Vor ihnen im Sand hatte Daniel gespielt. Die Sonne hatte alles in ein sanftes Goldgelb getaucht. Goldgelb. Sie folgte der Stimme und ließ sich goldgelb durchströmen, den Kopf, den rechten Arm, jeden Finger einzeln, den linken Arm, die Finger, ihren Leib, das rechte Bein, die Zehen, das linke Bein, die Zehen. “Und jetzt”, hörte sie von weit her die Stimme, “jetzt gehen wir zusammen eine Treppe hinunter, zehn Stufen, und wenn wir unten sind, sind wir in deiner Kindheit angekommen. Und du fühlst dich wohl. Weil du weißt, daß du erwachsen bist. Daß du jederzeit weg kannst.” Er ließ ihr Zeit, langsam die Stufen hinunterzugehen. “Wie alt bist du?” Gaby suchte nach Worten. Und dann hörte sie ihre Stimme. Es war die klägliche Stimme eines Kindes. “Sechs”, sagte das Kind. “Ich bin sechs Jahre. Ich bin krank.” — “Was hast du?” — “Irgend etwas mit meiner Niere. Ich kann dran sterben, hat der Arzt gesagt.” — “Findest du das schlimm?” — “Nein, es tut nicht weh.” Das Kind stockte. Unruhig warf Gaby den Kopf hin und her. “Was tut dann wohl weh?” — “Nein, nein, ich will nicht. Ich will das nicht. Es tut weh.”
Sie fühlte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. “Aber er hört nicht auf.” — “Wer hört nicht auf?” — “Pappi”, sagte das Kind. “Pappi hört nicht auf.” Sie schluchzte. — “Und deine Mutti?” Sie konnte nicht sprechen. Sie fror, ihre Zähne schlugen aufeinander. Jemand legte ihr eine Decke über. Langsam beruhigte sie sich. “Und deine Mutti?” — “Ich darf Mutti nichts erzählen. Wenn sie es hört, hat sie mich nicht mehr lieb.” — “Hat sie es gehört?” Jetzt weinte das Kind wieder. “Ich habe nichts verraten. Aber sie hat mich doch nicht mehr lieb. Ich bin ein schlechtes Mädchen.”
“Du bist eine schlechte Mutter”, sagte Hubert, und seine Stimme durchschnitt ihr Herz. “Eine gute Mutter denkt zuerst an ihre Kinder und dann an sich.” Gaby sah ihn an, ohnmächtig vor Wut und Schmerz. Sie fuhren nach Deutschland ins Theater und eine kleine Diskussion zu Hause mit Daniel und Alex hatte ihn im Auto zu dieser vernichtenden Aussage getrieben. “Du bist eine schlechte Mutter!”
Seit einundzwanzig Jahren versuchte sie allen Kindern eine gute Mutter zu sein, erst ihren Kindern, später seinen Kinder und nun auch den gemeinsamen Kindern. Für ihre Sorgen und Probleme hatte sie ein offenes Ohr, sie nahm im tiefsten Innern Anteil an ihrem Wohl und Wehe, akzeptierte, wenn sie sich freimachen wollten, ohne den heranwachsenden Kindern das Gefühl zu geben, sie als Mutter hätte Rechte an ihnen. Aber sie hatte auch Rechte für sich selbst. Jedenfalls hatte Jaap van Landen ihr das gesagt. “Du kannst von den Kindern erwarten, daß sie begreifen, daß sie nicht immer und zu jeder Zeit ein Recht auf dich haben. Andersherum gilt das doch auch? Wenn du mit deinem Mann allein sein möchtest, dann kannst du das sagen.” Gaby hatte gedacht, daß er gut reden hatte. Die starre und unbeugsame Besuchsregelung mit den drei Kindern aus seiner Ehe mit Charlott war ein lebendiges Beispiel dafür, daß sie keine Rechte, nur Pflichten hatte. Dabei liebte sie seine Kinder, sie waren ihr im Laufe der letzten neun Jahren so ans Herz gewachsen, daß sie sie gerne mehr um sich herum gehabt hätte. Aber nicht mit der Knute: du mußt. Jede Spontanität wurde totgeknüppelt, viel Herzlichkeit erstickte im festen Schema. Und doch gaben die gemeinsamen Essen Gaby andererseits das Gefühl, gebraucht zu werden. Wenn es allen gut schmeckte, die Kinder sich ihre Teller zum zweiten Male füllten und die kleine Xenia ihr einen unerwarteten Kuß gab, weil sie für das Mädchen eine extra große Portion Wackelpudding zubereitet hatte, dann breitete sich in Gaby eine satte, wohlige Zufriedenheit aus. Dies war gut, dies fühlte sich ehrlich und wahrhaftig an. Es war schön, für Kinder und einen Mann zu sorgen, wenn sie hin und wieder auch für sich selbst sorgen konnte. Das hatte sie zu Daniel und Alex gesagt. “Laßt mich doch eine Viertelstunde allein. Ich möchte mich in Ruhe
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