Zuckerpüppchen - Was danach geschah
mit dem das Boot festgebunden war, gut verknotet war. Leicht seufzend ließ sie sich wieder neben Gaby ins Gras fallen. “Ich dachte, du bist in Therapie, weil es dir öfter nicht gut geht.” Gaby stieß die Luft durch die Nase aus. “Ja, so könnte man es nennen.” Sie schwiegen beide. Gaby dachte daran, wie Ursel sie während der Schwangerschaft mit Alex bemuttert hatte und wie sie sie mit ihrer Wärme und Sorgsamkeit umhüllt hatte. Wie sie bei ihr vor dem Kamin mit angezogenen Beinen gesessen und sich geborgen gefühlt hatte. Hatte sich etwas geändert? Ursel war doch noch immer ihre beste Freundin, der sie vertrauen konnte. Und mit der sie über ihre Jugend reden wollte. Zögernd begann sie, und ihre Worte schmerzten sie, als hätte sie Stacheldraht im Mund. Ihre Zunge stolperte über Spitzen und Enden, schien den Dienst bei gefährlichen Punkten zu verweigern, stieß immer wieder gegen Barrieren. Sie erzählte, daß sie schon als Kind von ihrem Stiefvater mißbraucht worden war. Sie erzählte von der Einsamkeit und der Isolation. Und von dem Teenager, der regelmäßig vergewaltigt wurde, mit Mißhandlungen im Krankenhaus gelegen hatte. Sie erzählte keine Einzelheiten, für vieles konnte sie keine Worte finden. Aber ein Anfang war gemacht. Sie hatte ihr Schweigen gebrochen und mit einem Menschen, der ihr viel bedeutete, darüber geredet. “Du bist die erste”, schloß sie ihren Bericht, “mit der ich überhaupt darüber rede. Ich meine, außer Hubert natürlich.”
“Hubert weiß davon?” Ursels Stimme klang, als weine sie. Gaby wagte nicht, sie anzusehen. “Ja, er weiß soviel, wie er wissen will.” In einer unerwartet plötzlichen Aufwallung schlug Ursel die Hände vor ihr Gesicht. “Wie furchtbar ist das. Wie furchtbar ist das alles.” Gaby schwieg. Ja, es war furchtbar gewesen. Eine Zeit, die sie lieber vergessen wollte. Und das war es, was sie noch immer nicht begreifen konnte. Sie hatte jetzt, nach so vielen Jahren, wegen dieser Zeit körperliche und seelische Schwierigkeiten. Sie war am Ende, weil ihre unverarbeiteten Jugenderinnerungen wie ein Krebsgeschwür aufgebrochen waren. Das sagte Jaap. Es dauerte eine Weile, bis Ursel sich beruhigt hatte. Und jetzt endlich legte sie den Arm um Gabys Schultern. “Es ist schrecklich”, sagte sie, “was Menschen einander antun. Ich wünschte, ich könnte es wieder gutmachen.”
“Blaß siehst du aus”, sagte Achim, als er sie vom Bahnhof abholte. Gaby fiel ihm um den Hals. “Ich bin so froh, daß ich ein paar Tage bei euch bleiben kann.” Sie umarmte seine Frau Gitte. “Es ist schon ewig her, daß ich allein bei euch war.”
Nach Muttis Tod war sie eine Woche bei Achim und Gitte geblieben. Am Abend nach ihrer Beerdigung war sie vollkommen zusammengebrochen. Schon während Muttis schwerer Krankheit hatte sie immer weniger essen können. Die Angst, Mutti zu verlieren und mit ihr nie mehr über alles reden zu können, war zu beklemmend gewesen. Als der Sarg von den Totenträgern an langen Seilen langsam in die Tiefe gelassen wurde, hätte sie am liebsten laut geschrien: “Nein, nein, es ist noch zu früh. Wir waren noch nicht fertig miteinander.” Aber sie hatte nur trocken aufgeschluchzt. Als sie dann die drei Schaufeln Sand auf den Sarg geworfen hatte, wurde ihr schwindelig. Achim hatte sie fest am Arm gegriffen und zu einer Bank geführt. “Du mußt unbedingt etwas zu Kräften kommen”, hatte Gitte gesagt. “Robbie und die Kinder müssen sich mal eine Woche ohne dich retten können.”
“Können Hubert und die Kinder überhaupt ohne dich auskommen?” fragte jetzt Gitte in ihre Gedanken hinein. “Ich glaube schon.” Gaby dachte daran, daß Ursel sie unter die Fittiche nehmen wollte und daß sie sich keine Sorgen machen sollte. Hatte Hubert gesagt.
Das Klassentreffen begann am Samstag morgen um neun Uhr mit einem Frühstück im ‘Eppendorfer Baum’. “Früher war das ein Tanzcafe”, erinnerte sich Gitte. “Bist du da auch hingegangen?” “Nein”, sagte Gaby. “Ich durfte so etwas nicht.” Und sie überlegte, daß auch Gitte und Achim nichts von früher wußten. Auch zu ihrem Bruder hatte sie gesagt, daß sie keinen Kontakt mehr mit ihrem gemeinsamen Stiefvater hatte, weil er sie mißhandelt hatte. Und mißbraucht. “Mich hat er auch grün und blau geschlagen”, hatte Achim achselzuckend gesagt. “Aber sind wir es Mutti nicht schuldig, uns ein wenig um ihn zu kümmern?” Auf das Wort ‘mißbraucht’ ging er nicht
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