Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Verwundert hatte sie festgestellt, daß sie tatsächlich eine Decke über den Beinen liegen hatte. “Dir war sehr kalt”, hatte Jaap ihr erklärt. “Nicht nur als Kind. Du frierst viel.” Unwillig hatte sie die Decke zur Seite geschoben und sich die Tränen abgewischt. “Kein Wunder, ich habe niedrigen Blutdruck.”
Das Hinabgleiten in den Hypnoseschlaf ging diesmal noch schneller. Das wohlige Goldgelb durchrieselte Gabys Körper, und schon bald folgte sie ihm auf den Stufen hinab in ihre Kindheit.
“Du bist jetzt sieben Jahre alt, Gaby. Schau dich um. Was tust du?” Gabys Stimme klang aufgeweckt. “Ich sitze am Tisch und zeichne. Mit einer Münze male ich Püppchen. Ein Kreis ist der Kopf. Ein zweiter Kreis ist der Bauch. Und dann male ich noch Arme und Beine dran. Und lachende Gesichter. Große Münder mit lachenden Gesichtern.” Sie verstummt und zieht einen weinerlichen Mund. “Was ist, Gaby? Gefallen dir deine Püppchen nicht?” “Mutti gefallen sie nicht. Mutti sagt, das sind komische Püppchen- “Warum sagt Mutti, daß es komische Püppchen sind?” — “Sie haben keine Augen, sagt Mutti. Meine Püppchen haben keine Augen.” — “Und, stimmt das? Haben deine Püppchen keine Augen?” Gaby lacht ein wenig. “Natürlich haben sie Augen. Hab ich Mutti auch gesagt. Aber man sieht sie nicht. Weil die Augen zu sind. Wenn man die Augen zu hat, sieht man sie doch nicht?” — “Warum haben deine Püppchen die Augen zu, Gaby?” Gaby wird unruhig, spitzt ihren Mund, als wolle sie etwas sagen, schweigt dann aber.
“Du kannst es mir ruhig sagen, Gaby, ich werde nicht böse auf dich.” — “Ich will es nicht sehen.” — “Was willst du nicht sehen?” — “Das, was Pappi tut.” — “Er tut dir weh?” — “Ja.” — “Wo tut er dir weh?” — “An meiner Muschi.” — “Hast du ihm gesagt, daß er dir weh tut?” Sie schweigt. “Hast du gesagt, daß er aufhören soll?” Sie schweigt, denkt nach. Beinahe erleichtert erinnert sie sich. “Einmal, ja. Einmal habe ich es gesagt. Hör auf, hab ich gesagt. Das ist eine doofe Geschichte. Aber er sagte: Ich will aber nicht aufhören. Und es klang wie damals, als er Achim verhaute.” — “Achim ist dein Bruder.” — “Ja.” — “Hast du Angst vor Pappi?” — “Ja.” — “Und Achim?” — “Auch. Achim verhaut er. Mich nicht.”
“Das ist genug für heute, Gaby. Du kommst langsam wieder zurück in dies Zimmer. Du gehst die Stufen hoch und zählst von zehn rückwärts bis eins. Und wenn du bei eins bist, machst du die Augen auf und sitzt mir gegenüber. Und du kannst dich an alles erinnern.”
Verwirrt, als blende das Licht sie, schlug Gaby die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. “Möchtest du einen Kaffee?” Dankbar nahm Gaby den Becher Kaffee entgegen und wärmte ihre kalten Finger. “Geht es dir gut?” Jaap sah sie fragend an. Sie nickte. “Du kannst dich an alles erinnern, was du gesagt hast?”
Die Püppchen, ulkig. Sie hatte nie mehr daran gedacht. Stundenlang hatte sie Reihen von Püppchen gemalt, ein Zehnpfennigstück für den Kopf, eins für den Bauch, Arme und Beine dran, fertig. “Komisch, daß ich keine Augen gemalt habe. Kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern.” — “Du hast gesagt, du hast sie nicht gemalt, weil du es nicht sehen wolltest.” — “Ja, praktisch, nicht wahr? Was man nicht sieht, geschieht nicht.” Ihre Stimme klang spöttisch. “Einfach macht sich das so ein Kind.” — “Glaubst du, daß das Kind es sich einfach gemacht hat?” — “Ja. Hat es doch gesagt.” — “Warum sagst du ‘es’ und nicht ‘ich’?” Gaby begann zu weinen. “Ich weiß, daß ich das Kind war, wenn es das ist, was du hören willst. Und ich weiß, daß ich mich nicht gewehrt habe.” Sie weinte stärker. “Findest du, daß du dich hättest wehren müssen?” — “Ja, natürlich finde ich das. Verdammt noch mal, ich hätte mich eher totschlagen lassen müssen als still zu halten...” Ihre Stimme brach ab. Sie schluchzte eine Weile, schneuzte sich dann lautstark in ein Papiertaschentuch, das Jaap ihr reichte. “Quatsch.” Sie zog noch einmal die Nase hoch. “Ich hatte ganz einfach Angst. Ich war wie gelähmt vor Angst. Ich betete. Dann ging es schneller vorbei. Ich konnte nichts tun.” Jaap bot ihr eine Zigarette an. “Das sagst du jetzt als Erwachsene, aber fühlst du es auch so? Fühlst du dich nicht schuldig?”
Die Einladung zum Klassentreffen kam
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