Zuckerpüppchen - Was danach geschah
kannst.” Gaby sah sich um. Da war Mutti. Nein, unmöglich, Mutti weinte oft und stritt sich mit Pappi. Ob sie sich wegen ihr stritten? Da war Achim. Aber der hatte ja gleich gesagt, daß sie sich nicht so an Pappi ranmachen sollte. Sich nicht von ihm abschlecken lassen sollte. “Du hast selber schuld”, würde er bestimmt sagen. “Ich habe mich von ihm verprügeln lassen.” Da war eine Nachbarin. Die hatte ihr einmal übers Haar gestrichen. “Armes Kind”, hatte sie gesagt. Sonst war da niemand. Niemand, mit dem sie hätte reden können. “Da ist niemand”, sagte Gaby mit zittriger Stimme. “Ich bin ganz allein.” — “Siehst du als Erwachsene das Kind, das allein ist?” Jaaps Stimme war warm und ganz dicht bei ihr. “Erinnerst du dich, daß du gesagt hast, ein Kind mit sechs Jahren sei nicht unbedingt schlecht? Vielleicht hätte es auch nichts an der Situation tun können?” — “Ja”, sagte Gaby, und es war die erwachsene Frau, die antwortete.
“Sieh zu dem Kind. Das Kind Gaby. Es ist allein. Es ist krank. Niemand hilft dem Kind. Was hätte es tun sollen? Betrachte das Kind, und wenn du eine Antwort weißt, dann gib sie mir.” Gaby sah dem Kind beim Spielen zu. Wie es immer mit dem Rücken zur Wand spielte. Es hatte Angst, daß Pappi von hinten an sie herantreten würde. Ihr zwischen die Beine greifen würde. Wie es sich stundenlang schlaflos im Bett herumwälzte, mit angehaltenem Atem auf die Schritte in der Wohnung lauschte. Und erst wagte, einzuschlafen, wenn im Elternschlafzimmer alle Geräusche verstummt waren. Wie es in Panik geriet, wenn Pappi ihr die Tür öffnete. “Ist Mutti nicht da?” hörte sie das Kind fragen. “Nein, Zuckerpüppchen. Wir haben das Reich für uns allein. Ist das nicht schön, mein Engelchen?” Sie war allein. Niemand hatte ihr helfen können. Sie hatte nichts an der Situation ändern können.
“Nein”, sagte die Frau Gaby, “das Kind hatte nichts an der Situation tun können. Niemand hat dem Kind helfen können.”
“War das Kind schlecht?” fragte Jaap. “Warum hatte es sich an Pappi herangemacht?”
Gaby sah das kleine Mädchen von sechs Jahren bei Pappi auf dem Schoß sitzen. Er hatte so viele unbekannte Köstlichkeiten aus Ägypten mitgebracht. Kekse, Schokolade, bunte Oblaten. Pappi drückte es und küßte es. Sie fand das fein. Er sagte zu dem Kind, sie sei etwas Besonderes, beinahe eine kleine Prinzessin. Das versetzte es in die Märchen, die Achim ihm erzählt hatte. Es wollte so gerne eine kleine Prinzessin sein. Dann hatte es nie Hunger, es war nie kalt, und es fielen keine Bomben. Es wollte so gerne in dem Arm genommen werden. Wenn Mutti es in den Arm nahm, fühlte es sich beschützt. Der Arm war wie ein Schutzwall zwischen ihr und all dem Unbegreiflichen, das im Krieg geschah. Und warm wurde ihm, wenn Mutti es in den Arm nahm. Manchmal so warm, daß es beinahe nach Luft schnappen mußte. So war es zu Anfang bei Pappi auch gewesen. Er roch nicht so gut wie Mutti, aber er hatte einen starken Arm. Er würde alle bösen Dinge von ihm entfernt halten. So war es gewesen bis zu dem Mittag, als es auf der Couch zu ihm gekrochen war. “Darf ich bei dir ruhen”, hatte es gebettelt. Und Pappi hatte ihm eine Geschichte erzählt. Nach der Geschichte war nichts mehr so gewesen wie vorher. “Hör auf“, hatte das Kind gesagt und die Augen zugekniffen. Aber er hatte nicht aufgehört. Nie mehr. Nein, das hatte sie nicht gewollt. Er hatte ihr Angst gemacht. Er hatte ihr weh getan. Deswegen hatte sie sich nicht an ihn herangemacht. Sie hatte nur geliebt werden wollen. Einfach nur so. “Nein”, sagte die Frau Gaby. “Das Kind war nicht schlecht.” “Begreifst du jetzt, wie einsam das Kind war?” fragte Jaap sie. “Und daß es Zeit wird, daß es jemand in den Arm nimmt? Daß es endlich getröstet wird? Daß jemand Mitleid mit dem Kind hat?”
“Aber da ist doch niemand?” Gabys Stimme brach beinahe. “Da ist niemand, der das Kind trösten kann.”
“Du bist da”, sagte Jaap, und seine warme Stimme drang durch bis zu ihren Haarspitzen. “Du bist da. Die erwachsene Gaby. Habe endlich Mitleid mit dem Kind. Nimm es in die Arme. Sag dem Kind, daß du begreifst, daß es nicht schlecht war. Daß es nichts an der Situation hatte verändern können. Daß es unschuldig war.”
Es war, als bräche ein Damm. Das Kind war unschuldig. Es hatte nichts an der Situation ändern können. Nicht das Kind war schuldig, sondern der Mann. Es war nicht
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