Zuckerpüppchen - Was danach geschah
schlecht. Es hatte nicht weglaufen können. Mein Gott, was für ein bedauernswertes Kind. Ja, sie hatte Mitleid mit dem Kind. Sie weinte. “Nimm es in deine Arme”, sagte Jaap. “Nimm es endlich in deine Arme. Halte es fest. Tröste es. Sage dem Kind, daß es dir leid tut. Sage dem Kind, daß es nicht schlecht ist. Sage dem Kind, daß es Mutti nicht schützen kann. Weil es sich selbst nicht schützen kann.” Schluchzend und schlotternd nahm Gaby das Kind in die Arme. Küßte es auf die zusammengekniffenen Augen. Wärmte die kalten Hände. Streichelte über den verkrampften Rücken. Strich ihm die Haare aus dem Gesicht. “Du hast keine Schuld”, flüsterte sie. “Du hast keine Schuld. Die anderen sind es. Sie tun es. Sie haben dir das alles angetan.” Sie fühlte die Wärme des Kindes in ihren Armen. Wie sie ineinander verschmolzen. Sie war das Kind und die Frau. “Oh mein Gott”, schrie sie. “Was hat man mir angetan?”
Natalie hatte ihr Jurastudium problemlos abgeschlossen. Alle Examen mit hervorragenden Noten bestanden. “Ich will ein Jahr auf Weltreise”, kündigte sie Gaby bei ihrem letzten Besuch an. “Ich fahre mit Klaas. Meine Aussteuerversicherung lasse ich mir dafür ausbezahlen. Die brauche ich doch nicht. Eine Stellung suche ich mir, wenn ich zurückkomme.” Mit Klaas. Ein netter junger Mann. Ganz deutlich verliebt in ihre Tochter. Vielleicht kam doch noch alles ins rechte Fahrwasser. Glücklich war Natalie noch immer nicht. Auch nicht zufrieden mit sich und ihrem Körper. Andere Menschen, andere Kulturen kennenlernen, das war hoffentlich ein Schritt in diese Richtung. Zum erstenmal beneidete sie ihre Tochter. Sie hatte die Möglichkeit, sich selbst zu finden. Weniger schmerzhaft, als sie selbst es gerade tat.
“Du bist kein Kind mehr”, hatte Jaap ihr bei der letzten Sitzung deutlich gemacht. “Heute kannst du tun und lassen, was du willst. Niemand hat mehr Gewalt über dich. Du kannst dich wehren. Du bist nicht mehr hilflos.” Gaby hatte die Worte auf sich einwirken lassen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie wollte etwas für sich selbst tun. Was hatte Frau Moll gesagt: “Deine Aufsätze waren etwas Besonderes. Ich war immer überzeugt, daß du etwas mit deinem Schreiben tun würdest.” Ja, sie wollte etwas mit ihrem Talent, wie Frau Moll es genannt hatte, beginnen. Sie wußte nicht, ob man Schreiben lernen konnte. Aber sie wollte es versuchen. In einer Zeitschrift hatte sie eine Anzeige gelesen. “Lernen Sie schreiben in Ihren eigenen vier Wänden. Erfahrene Lehrer begleiten Sie bei Ihrem Studium der Journalistik und Belletristik.” Sie schnitt den Coupon aus und schickte ihn ein. Innerhalb einer Woche lag die Antwort mit einem Anmeldeformular in ihrem Briefkasten. Es war nicht billig. Ein monatlicher Beitrag von achtundneunzig Mark. Sie bekam Taschengeld von Hubert. Sie konnte selbst entscheiden, was sie damit tun wollte. Sie unterschrieb den dreijährigen Kursus, brachte die Anmeldung zur Post und fühlte, daß sie einen weiteren Schritt unternommen hatte. Erst danach erzählte sie es Hubert. Er sah sie skeptisch an. “Eine Nähmaschine hast du dir auch einmal gewünscht. Ich habe dich schon lange nicht mehr nähen sehen.”
“Aber das ist doch etwas anderes”, versuchte sie ihm zu erklären. “Ich will richtig schreiben lernen.” — “Ich werde dich nicht davon abhalten”, sagte er kühl. “Aber denke bitte daran, daß du auch Kinder hast, die dich brauchen.”
Manchmal konnte sie ihn hassen. War es denn für ihn nicht einmal möglich, ihre Begeisterung für ihre Pläne und Wünsche zu teilen? Sie war doch nicht nur Mutter und Hausfrau? Ihre Pflichten als Mutter würde sie nicht vernachlässigen. Und Huberts Socken würde sie immer noch mit der Hand waschen und das Essen pünktlich auf dem Tisch haben. Aber gerade jetzt bekam sie etwas mehr Zeit. Alex kam in die Vorschule. Das bedeutete, daß sie jeden Tag von halb neun bis mittags um zwölf Uhr und nachmittags noch einmal von halb zwei bis um halb vier Uhr kein Kind mehr zu beaufsichtigen hatte. Das hieß, sie hatte fünfeinhalb Stunden für sich selbst. Unvorstellbar viel Zeit! Natürlich mußte sie vormittags auch das Essen kochen, denn Hubert erwartete genau um ein Viertel vor ein Uhr seine warme Mahlzeit, aber das konnte sie schon schaffen. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren konnte sie sich ihre Zeit wieder ein wenig selber einteilen. Und sie wollte etwas tun, das nur für sie selbst war. Wenn
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