Zuendels Abgang
voraussetze, daß die Frau erstens strickend auf seine Rückkehr warte und zweitens keinerlei Bedürfnis habe, ihrerseits mal ohne Mann die Flügel auszubreiten. Immer habe sie - Johanna - ihrem Sohn eine warme, nicht aber fügsame Gefährtin gewünscht, und sie habe das Ihre zu tun versucht, um Konrad zu beschützen vor dem üblichen, also eher sadistisch geprägten Frauenbild. Umgekehrt habe sie sich Mühe gegeben, die von überallher in ihn einsickernden Männlichkeitsdefinitionen zu relativieren, und sie halte dies selbst dann für richtig, wenn er - was sie nicht ausschließe - sich jetzt ein wenig ›unmännlich‹, also schwach vorkommen sollte.
Ich kann, sagte Johanna, ich kann und darf ein Kind nicht trimmen auf das von mir als schlecht Erkannte, nur damit es sich mit diesem dann leichter arrangiert, nein, nein, das darf man nicht. Lieber nehme ich die Schuld auf mich, mein Kind ungenügend vorbereitet zu haben auf das sogenannte Leben. Das ist wirklich eine Schuld, ich weiß. Aber ist es nicht auch eine Art Schuld, wenn man sein Kind einfach zu einem wackeren Teilnehmer und Fortsetzer des Blödsinns erzieht? Sollen unsere Kinder halbwegs zufriedene Komplizen werden oder unglückliche Widerstandskämpfer? Was meinst du? Magda sagte: Mir schwebt ein glücklicher Kämpfer vor!
Wie gesagt, dieser Besuch bei Mutter Johanna tat Magda gut, sie fühlte sich leichter und kräftiger danach, und als ein paar Tage später, am 24. Juli, Konrads Ansichtskarte aus Genua - Poststempel 18. 7. - eintraf, war Magda geradezu erlöst. Er schrieb zwar Absonderliches, aber er lebte. Oft dachte sie nach über ihn. War er - trotz Johannas Erziehung - nicht auch nur ein herkömmlicher Mann, behaftet mit all den Marotten, die sie, Magda, mit Hilfe der Frauengruppe so gründlich zu durchschauen gelernt hatte? Fühlte sie sich nicht oft unterdrückt, gestutzt, gelenkt? Hatte sie nicht zuweilen Angst vor seinem Urteil? Dominierte er sie nicht? Warum mußte sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie unternehmungslustig war und er müde? Und wenn sie dann - selten genug - ohne ihn ausging? Deutete das alles nicht darauf hin, daß auch er ein Herrscher war? Durfte sie andrerseits vergessen, wie sehr ihre Eltern sie gefesselt hatten? Konnte es nicht sein, daß sie darum besonders empfindlich war? Mehr noch: War es nicht denkbar, daß sie unbewußt dazu neigte, Konrad mit ihren Eltern zu verwechseln und als seine verbietende Stimme zu deuten, was in Wahrheit die in ihr selbst rumorende Stimme der Eltern war? Und konnte es nicht sein, daß diese Stimme und nicht Konrad es war, welche Unterordnung verlangte und welche ihr ein schlechtes Gewissen aufschwatzte, wenn sie unternehmungslustig war und er müde? Und wenn sie dann - selten genug - ohne ihn ausging, wozu er sie ja eigentlich oft ermuntert hatte -: war es dann fair, ihn ein bißchen zu hassen und haftbar zu machen für ihr Schuldgefühl?
Magda schwankte, sie wußte nicht, wie die Sache sich wirklich verhielt, und sie fand, daß jedem Versuch, eine Beziehung zu analysieren, etwas seltsam Beliebiges anhafte und daß auch die einleuchtendsten Theorien nichts weiter verdienten als Kopfschütteln und Mitleid. Aber sie fühlte sich Konrad näher als je. Gegen Ende der letzten Ferienwoche wuchs ihre Besorgnis wieder. Bis anhin hatte Konrad die Schlußtage seiner Ferien stets für Unterrichtsvorbereitungen gebraucht. Es konnte noch so schön sein in der Provence oder wo auch immer: Spätestens vier Tage vor Schulbeginn mußte man abreisen, und zu Hause war Konrad vom Schreibtisch nicht mehr zu vertreiben. Daß er sein übersteigertes Pflichtgefühl eines Tages einfach verlieren würde, hielt Magda für wünschenswert, aber ausgeschlossen. Und jetzt war Samstag. Erster August. Abends wäre Frauentreff gewesen mit anschließendem Besuch des Seenachtfestes, doch Magda hatte abgesagt. Sie war nervös. Jedesmal, wenn draußen ein Knallkörper explodierte, zuckte sie zusammen. Es knatterte von früh bis spät, und obwohl Magda die geräuschvolle Wesensart der hiesigen Heimatliebe allmählich kannte, drehte sie fast durch.
Der Nationalfeiertag verstrich also ohne Konrad, aber am Sonntagabend um neun Uhr stand er dann - wie schon gemeldet - plötzlich unter der Tür.
21
Man kann es nicht anders ausdrücken: Magda war starr vor Schreck. Und Konrads Erscheinung kann wirklich kaum anders genannt werden als erbarmungswürdig.
Abgesehen von den dunkleren Bartstoppeln war sein Gesicht
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