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Zuendels Abgang

Zuendels Abgang

Titel: Zuendels Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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geworden mit dem Diabolischen! - Wie sieht denn ein moderner Lebenslauf aus? Abstoßend. Abstoßend und dreiaktig. Dreiaktig wie eine Komödie. Erster Akt: Auflehnung gegen das Seiende, also Böse. Zweiter Akt: Anpassung an das Seiende, also Böse. Dritter Akt: Bejahung des Seienden, also Bösen. - Aber fremd ist euch die Sprache der Wahrheit. Anders habt ihr's gelernt, nämlich so: Erster Akt: Pubertärer Idealismus. Zweiter Akt: Reife. Dritter Akt: Vollreife, Weisheit, Abgeklärtheit. So und nicht anders habt ihr's gelernt, und darum gibt es für euch nichts Erstrebenswerteres als den Intimverkehr mit dem Realen, das aber heißt: mit dem Teuflischen. Da sitzt ihr jahrelang in diesen Bänken und glotzt in die trostlosen Fratzen bornierter Dompteure und hört euch den feuchten Schwachsinn an, der ihnen unablässig von den Lippen tropft! Merkt ihr nicht, daß eure sämtlichen Erzieher, wozu ich auch eure Eltern rechne, daß sie alle nichts anderes als tückische Kuppler und Zuhälter sind, die euch ums Verrecken in die Arme der Wirklichkeit treiben wollen? Und wißt ihr, auf welch simple Weise sie das erreichen? - Sie machen euch Angst! Sie machen euch Angst mit Befehlen, Geboten, Verboten, mit Noten, Strafen, Bloßstellungen, mit Zwang, Druck, Drohung und Liebesentzug. Erziehung ist pausenlose, berechnende, ideenreiche Angsterzeugung, und wer das leugnet, ist ein korrupter Schuft und gehört mit glühenden Zangen gekniffen! - Was aber macht man als Betroffener mit seinen Dauerängsten? - Es gibt nur einen Weg, nur eine Methode, sie loszuwerden: die Unterwerfung, die Anpassung, die Identifikation mit den Peinigern, das jauchzende Ja zur eigenen Verstümmelung, den Zungenkuß mit dem Status quo, die demonstrative Begattung mit der Wirklichkeit! - Ich will es noch eine Spur deutlicher sagen, schreibt euch das ruhig hinter eure Öhrchen: Das Bestehende sehnt sich danach, von euch gefickt zu werden, und eure Erzieher sehnen sich danach, euch dabei zuzuschauen. Und je routinierter ihr euch anstellt, umso entspannter, umso wohlwollender, umso strahlender wird ihre Miene. - So ist das. So und nicht anders. –
    Und damit hat unsere Lektion ein natürliches Ende gefunden, und knechtisch w r's, das Klingelzeichen abzuwarten!

    Zündel wollte das Zimmer verlassen, griff aber einige Male an der Klinke vorbei.
    Er drehte sich wieder um zur Klasse, die stumm und geduckt dasaß, und sagte tonlos: Man will mich einschließen. Bedenkt den Doppelsinn!
    Dann wankte er zum Pult zurück, setzte sich und schrieb ins Klassenbuch: Alles okay!
    Sein Gesicht wurde fahl, die Züge schärfer, plötzlich erbrach er sich. Er versuchte noch einmal aufzustehen, wahrscheinlich, um zum Lavabo zu laufen, stemmte seinen Körper mit Hilfe der Arme etwas hoch, lächelte, sagte zweimal »hoppla!« und brach zusammen.

    23

    Zwei Tage lang lag er im Spital, unansprechbar, starr, aber fast immer mit geöffneten Augen. Die Ergebnisse der üblichen elektrodiagnostischen Verfahren waren nur insofern beunruhigend, als sie keinerlei Anhaltspunkte für eine benennbare Störung lieferten. Die Blutsenkung war normal, der Urin unauffällig, die Körpertemperatur im Rahmen. Stuhl hatte er keinen. Die leichte Unterernährung durfte kaum als hinreichender Grund für seinen Zustand gelten, und von einer vorerst vermuteten chronischen Alkoholvergiftung konnte nicht die Rede sein.
    Schwestern und Ärzte sprachen ihn immer wieder an, stellten ihm Fragen, doch blieb er still. Magda war täglich bei ihm, er schaute durch sie hindurch, ohne Ausdruck. Auch seine Mutter übersah er. Auch mich nahm er nicht zur Kenntnis. Man ernährte ihn künstlich.
    Große Chefvisite am Morgen des dritten Tages. Ein Troß von etwa zwölf Medizinern, vom Chef bis zum Unterassistenten, scharte sich um Zündels Bett. Darf ich Sie bitten! sagte der Chefarzt zu Assistenzarzt Dr. Hunkeler. Dr. Hunkeler stellte den Fall langatmig, aber äußerst selbstsicher vor. Unter anderem bemerkte er, der Patient könne zwar nicht sprechen, doch scheine sein Gehör intakt zu sein. Hier unterbrach der Chef den Assistenten: Was heißt das: ›scheint intakt zu sein‹? Ist es intakt oder ist es nicht intakt? - Hunkeler kratzte sich am Hals. Da blickte Zündel ihn an und sagte freundlich: Salü Rölfli!
    Der ganze Troß zuckte zusammen, sei es wegen des unerwarteten Wiedereintritts von Zündels Sprechvermögen, sei es, weil fast alle wußten, daß Hunkeler tatsächlich den Vornamen Rolf trug.
    Dr. Hunkeler, jetzt

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