Zuendels Abgang
einstimmen, euch vertraut machen mit dem Lebensgefühl einer leidvollen, also versunkenen Zeit, einer Zeit, die eine Endzeit ist, weil sie die letzte war, die sich vom Leben nicht bluffen ließ, die letzte, die es verschmäht hat, sich fidel zu wälzen im Schlamme falscher Zuversicht. Wahrlich, Grauenhaftes spielte sich ab auch in den folgenden Epochen! Zwei Weltenbrände allein in unserem Jahrhundert! Und vor der Türe steht nervös der dritte! Aber die Menschheit ist wohlgemuter als je, huldigt dem Positiven, himmelt die kraftmeierischen Greise und Halbgreise an, die als Politiker die Geschicke lenken und die nur darum mit Gedröhn einherschreiten und mit dem Säbel rasseln, weil sie Gevatter Tod verdrängen. Sie leben, solange sie stark sind! Und die Menschheit fühlt ähnlich, ist in Muskeln vernarrt, betet das Erz an, den Stahl, den Beton und alles, was hart und dauerhaft ist und nicht so vergänglich wie sie. - Kennt ihr die Neutronenbombe? Ja? Wißt ihr, daß sie ein Produkt der modernen Liebe ist? Ein Produkt jener Anbetung, von der ich eben sprach? Wißt ihr, daß sie - diese blütenreine Waffe - das Hochhaus und den Bunker, die Autobahn und die Flugpiste zärtlich verschont und sich beschränkt auf die Vernichtung der schmalbrüstigen Mutter Natur? - Kurz und gut, es gab eine Zeit, wo der Mensch sich seiner Schwäche nicht schämte, wo der Mensch seine Nichtigkeit weder mit Body-Building noch mit Wolkenkratzern noch mit Marschflugkörperprogrammen übertünchte, wo der Mensch sich zu sehen wagte in seiner ganzen lumpigen Invalidität. - Und von dieser Zeit wollen wir heute sprechen. Aus dieser Zeit wollen wir zwei Zeugen anhören!
Zündel machte ein lange Pause. Dann schlug er das erste der beiden ausgepackten Bücher auf.
Er sagte: Ich lese einige Worte unseres ersten Zeugen, schenkt ihm ein williges Ohr!
Er las: »Weder weiß ich, wer mich in die Welt setzte, noch was die Welt ist, noch was ich selbst bin. In einer furchtbaren Unwissenheit über alles und jedes bin ich. Ich weiß nicht, was mein Leib ist, noch was meine Sinne sind, noch was meine Seele ist. Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an eine Ecke dieses weiten Weltraumes gefesselt, ohne daß ich wüßte, weshalb ich nun hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und an keinem ändern Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war oder die nach mir sein wird. Alles, was ich weiß, ist, daß ich bald sterben werde, aber was der Tod selbst ist, das weiß ich am wenigsten. Wie ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ich auch nicht, wohin ich gehe.« -
Zündel legte das Buch weg, machte wieder eine lange Pause, griff dann zum ändern Buch und sagte: Ich lese einige Worte unseres zweiten Zeugen, schenkt ihm ein williges Ohr!
Er las: »Adieu, Welt, denn auf dich ist nicht zu trauen, noch von dir nichts zu hoffen, in deinem Haus ist das Vergangene schon verschwunden, das Gegenwärtige verschwindet uns unter den Händen, das Zukünftige hat nie angefangen, das Allerbeständigste fällt, das Allerstärkste zerbricht, und das Allerewigste nimmt ein End; also, daß du ein Toter bist unter den Toten, und in hundert Jahren läßt du uns nicht eine Stunde leben. Dannhero weinet, seufzet, jammert, klaget und verdirbt jedermann, und jedermann nimmt ein End; bei dir siehet und lernet man nichts als einander hassen bis zum Würgen, reden bis zum Lügen, lieben bis zum Verzweifeln, und sündigen bis zum Sterben.
Behüt dich Gott, Welt, denn mich verdrießt deine Kon-Konversation; das Leben, so du uns gibst, ist eine elende Pilgerfahrt, ein unbeständiges, Ungewisses, hartes, rauhes, hinflüchtiges und unreines Leben, voll Armseligkeit und Irrtum, in welchem wir all Augenblick sterben durch viel Gebrechen der Unbeständigkeit und durch mancherlei Weg des Todes! Du gibst aus dem güldenen Kelch, den du in deiner Hand hast, Bitterkeit und Falschheit zu trinken und machst uns blind, taub, toll, voll und sinnlos. Du machest aus uns einen finstern Abgrund, ein elendes Erdreich, ein Kind des Zorns, ein stinkendes Aas; denn wenn du uns lang mit Schmeicheln, Liebkosen, Dräuen, Schlagen, Plagen, Martern und Peinigen umgezogen und gequält hast, so überantwortest du den ausgemergelten Körper dem Grab. Wehe aber alsdann der armen Seele, welche dir, o Welt, hat gedienet und gehorsamt!« -
Hier klappte Zündel - sichtlich erschöpft - das Buch zu, und
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