Zuflucht Im Kloster
was nachts auf der Straße geschieht und wer noch unterwegs ist, wenn anständige Leute schon längst im Bett liegen? Ich schlafe im hinteren Teil des Kelleranbaus an der Rückseite der Halle, Mylord. Wenn Ihr die Stufen außen am Haus hinuntergeht, kommt Ihr zu meiner Kammer, und die ist weiter von der Straße entfernt als jede andere. Von dem, was auf der Straße vor sich geht, kann ich dort nichts sehen oder hören.«
Beringar hatte die Treppe an der Rückseite des Hauses bereits bemerkt. Die Stufen waren flach, da der Boden von der Straße abfiel und der Keller, der an der Straße ganz unterirdisch war, an der Rückseite des Hauses zur Hälfte über der Erde lag. Kein Zweifel: Dort war man von der Welt und allem, was dort geschah, abgeschnitten.
»Und wann seid Ihr vorgestern abend in Eure Kammer gegangen?«
Iestyn runzelte seine buschigen schwarzen Augenbrauen und dachte nach. »Ich gehe immer früh zu Bett, weil ich früh aufstehen muß. Ich glaube, vorgestern habe ich mich um acht Uhr, gleich nach dem Abendessen, schlafen gelegt.«
»Hattet Ihr noch irgend etwas zu erledigen? Seid Ihr noch einmal aus dem Haus gegangen?«
»Nein, Mylord.«
Beringar hatte eine plötzliche Eingebung. »Noch eine letzte Frage: Seid Ihr zufrieden mit Eurer Arbeit hier? Mit Meister Walter und seiner Familie? Behandelt man Euch ordentlich? Ist das Verhältnis zwischen Euch gut?«
»Ich bin ganz zufrieden«, antwortete Iestyn vorsichtig.
»Große Ansprüche habe ich nicht. Nein, ich kann mich nicht beklagen. Mit der Zeit werde ich das bekommen, was mir zusteht – aber erst muß ich es mir verdienen.«
Susanna erwartete Beringar an der Eingangstür und bat ihn mit derselben distanzierten Höflichkeit herein, mit der sie jedem anderen begegnet wäre. Auf seine Frage zuckte sie die Schultern und schüttelte den Kopf.
»Meine Kammer ist hier, Mylord, zwischen der Halle und dem Vorratsraum, an der Rückseite des Hauses. Baldwins Junge ist nicht zu uns gekommen, obwohl er das hätte tun können.
Wenigstens hätte er die Nacht nicht allein zubringen müssen.
Aber er ist nicht gekommen, und so wußten wir nicht, daß sein Meister noch nicht zurückgekehrt war. Das erfuhren wir erst am nächsten Morgen, als John kam und es uns erzählte. Es tat mir leid, daß der arme Griffin die ganze Nacht solche Angst gehabt hatte.«
»Und tagsüber habt Ihr Meister Peche nicht gesehen?«
»Nicht seit dem Morgen, als wir auf dem Hof und am Brunnen zu tun hatten. Mittags ging ich hinüber in seine Werkstatt, denn wir hatten Fleischbrühe übrig, und ich wollte ihm eine Schüssel bringen. John sagte mir, sein Meister sei am Morgen ausgegangen und habe irgend etwas von Fischen gesagt. Weiter weiß ich nichts.«
»Das hat Boneth mir auch erzählt. Und seitdem wurde Peche nicht mehr gesehen. In einer Stadt, in der jeder jeden kennt, ist das sehr seltsam. Er tritt aus dem Haus und ist verschwunden…« Beringar warf einen Blick auf die breite, geländerlose Treppe, die zur Galerie und den Räumen im ersten Stock führte. »Wie liegen diese Zimmer? Wer wohnt in dem, das über der Werkstatt liegt und auf die Straße geht?«
»Mein Vater. Aber er hat einen tiefen Schlaf. Ihr könnt ihn ja fragen – vielleicht hat er etwas gehört oder gesehen. Das andere Zimmer gehört meinem Bruder und seiner Frau. Daniel ist heute nach Frankwell gegangen, aber Margery werdet Ihr im Garten bei meinem Vater finden. Das hinterste Zimmer ist das meiner Großmutter. Sie ist heute im Bett geblieben, denn sie ist alt und hat einen schweren Anfall hinter sich. In ihrem Alter darf man das nicht zu leicht nehmen. Aber sie wird sich über Euren Besuch freuen«, sagte Susanna mit einem kleinen Lächeln.
»Sie wird ihrer Familie langsam überdrüssig; sie kennt uns alle viel zu gut – wir bieten ihr keine Abwechslung mehr. Ich bezweifle, daß sie Euch irgendwie helfen kann, Mylord, aber Euer Besuch wird ihr wahrscheinlich sehr gut tun.«
Sie hatte große Augen, die leuchtend und abweisend zugleich waren, und ihre langen Wimpern waren rotbraun wie ihr volles, lockiges Haar. Zu schade nur, daß bereits graue Strähnen darin waren und sie an den Winkeln ihrer grauen Augen und um ihren Mund feine Falten hatte, die vom Lachen, vielleicht aber auch von einem geheimen Kummer stammen mochten. Beringar schätzte, daß sie mindestens sechs oder sieben Jahre älter war als er, und fand, daß sie noch älter wirkte. Sie war eine schöne Frau, die ihre Bestimmung nicht erreicht hatte.
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