Zuflucht im Teehaus
der Höhle gestartet wurde. »Tut mir leid. Wahrscheinlich wissen Sie sowieso schon alles.«
Ich hatte nach Verbindungen zwischen den Mihoris und den Idetas gesucht, dabei aber keine Sekunde an den Autoverkäufer aus Hita gedacht. Ich hätte gern Juns Augen gesehen, um beurteilen zu können, ob er wirklich mein Feind war. Mit schwacher Stimme bat ich ihn, mir die Augenbinde abzunehmen.
»Nein. Ich müßte mich zu sehr schämen, wenn Sie mich sehen.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit, Jun. Sie machen das ganz gut«, sagte ich. »Zuerst haben Sie Nao Sakai umgebracht und seine Leiche nach Tokio gebracht, und dann haben Sie mich benutzt, um die Entdeckung der Leiche zu inszenieren. Die Verabredung neulich im Ueno Park – da wollten Sie mir doch bloß die Schriftrolle abnehmen und mich dann umbringen, oder?«
»Leider haben Sie recht«, sagte Jun. »Bitte glauben Sie mir, daß ich nichts gegen Nao Sakai hatte. Aber er hat versucht zu fliehen, und mein Bruder hätte mich umgebracht, wenn ich ihn nicht daran gehindert hätte.«
»Ich wußte nicht, daß Sie Brüder sind«, sagte ich, bemüht, meine Verzweiflung über die plötzliche Wandlung meines Freundes zu verbergen. »Ich dachte, Wajin ist mit Nana Mihori verwandt.«
»Wir waren eine Familie, bis ein Beauftragter der Mihoris bei uns nach einem Jungen im richtigen Alter suchte, den man für den Tempeldienst ausbilden konnte.« Jun klang verbittert. »Kazuhito war damals zwölf und arbeitete am Wochenende als Altarjunge in unserem Dorftempel. Die Priester waren alle der Meinung, daß er sich für die Priesterlaufbahn eignete. Er liebte das Gebet, die buddhistische Kalligraphie, die Kunst und all die anderen Dinge, mit denen man sich beschäftigen kann, wenn man zu kränklich ist, um am Schulsport teilzunehmen. Außerdem hat er das richtige Aussehen … seine Augen und seine Nase sind ein bißchen wie die von Akemi, ist Ihnen das schon aufgefallen? Hita ist weit weg von Kamakura … keiner würde so schnell erfahren, daß er kein echter Mihori ist.«
»Und warum haben Ihre Eltern sich darauf eingelassen? Einfach ein Kind wegzugeben, das sie liebten …«
»Die Mihoris haben sie davon überzeugt, daß Kazuhito den Rest seines Lebens als geachteter und wohlhabender Mann verbringen würde. Sie haben meinen Eltern eine Menge Geld gezahlt, so viel, daß mein Vater sich einen eigenen Autohandel leisten konnte. Und meine Mutter hat sich bereit erklärt, bei den Mihoris zu leben, um besser auf Kazuhito aufpassen zu können. Sie ist die Haushälterin. Alle nennen sie bei ihrem Mädchennamen Tanaka.«
Ich mußte an Miss Tanakas immer ein bißchen säuerlichen Gesichtsausdruck denken. Wie war es wohl gewesen, den Ehemann und den jüngeren Sohn zu verlassen, um bei Leuten zu leben, die sich mit den Erfolgen des älteren Sohnes schmückten? Wäre das Grund genug, sie bestehlen zu wollen?
»Wer wollte die Schriftrolle?« fragte ich.
»Kazuhito und Akemi lernten die Kunstsammlung des Tempels als Teenager kennen. Die Schriftrolle von Mitsuhori war die größte Kostbarkeit, und man sagte Kazuhito, daß er sie eine Woche im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich machen müsse. Er hat die Schriftrolle geliebt, und Akemi hat Besitzansprüche darauf angemeldet. Vor zwei Jahren dann hat mein Bruder sich die Schriftrolle genauer angesehen und ist zu dem Schluß gekommen, daß damit etwas nicht in Ordnung ist. Das Papier hatte andere Mängel als vorher. Er hatte Akemi oder ihre Mutter im Verdacht, das Stück entwendet zu haben, weil alle wissen, daß sie nichts mehr besitzen werden, wenn er Klostervorsteher wird. Schließlich hat Akemi sogar ihre Judo-Karriere in den Sand gesetzt«, fügte Jun verächtlich hinzu. »Mein Bruder hat den Haushalt der Mihoris ohne Erfolg durchsucht und ist dann auf die Idee gekommen, daß Akemi oder ihre Mutter die Schriftrolle vermutlich an einen sicheren Platz gebracht hatten. Und welcher Ort wäre sicherer als Nanas ehemaliges Zuhause in Denen-Chofu, wo sowieso lauter Antiquitäten herumstehen? Selbst wenn die Rolle dort in einer Schublade läge, würden alle sie für einen Teil des Familienbesitzes halten.«
Als ich Juns Geschichte hörte, wurde mir allmählich klar, daß Wajin sich die Reaktionen der Menschen ausrechnete und sie für seine Zwecke nutzte. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich gedacht, Wajin besitze übernatürliche Fähigkeiten. Jetzt kam ich zu dem Schluß, daß er einfach ein ausgezeichneter Menschenkenner war. Der blaue Fleck
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