Zuflucht im Teehaus
erst fünf Jahre zuvor erbaut worden war. Am Tag, nachdem Nana Mihoris tyrannische Mutter gestorben war, hatte Nana das vom Schimmel befallene Haus, das den vorhergehenden beiden Generationen von Mihoris als Heimat gedient hatte, abreißen lassen. Dann hatte sie sich einen Architekten gesucht, der in der Lage war, eine Aristokratenvilla im Stil des achtzehnten Jahrhunderts zu erstellen. Das Ergebnis seiner Bemühungen war einfach phantastisch. Das weitläufige, U-förmige Gebäude zierten ein Dach aus blauen Schindeln und niedrige Dachvorsprünge. Die zahlreichen Fenster erstreckten sich vom Boden bis zur Decke, so daß man von innen einen großartigen Ausblick auf den Garten voller seltener Kamelienbäumchen hatte. Dahinter lag noch etwas Interessantes: Das dojo ,eine Judo-Turnhalle, wo Nanas Tochter Akemi trainierte.
Der Holz- nio von Horin-ji wirkte furchteinflößend, doch die eigentliche Kämpferin auf dem Anwesen der Mihoris war Akemi, die bei den Olympischen Spielen von Seoul 1988 Mitglied des japanischen Judoteams gewesen war. In diesem Jahr waren Frauen zum erstenmal in der Disziplin Judo zugelassen worden, und man war davon ausgegangen, daß Akemi in der Mittelgewichtsklasse Gold gewinnen würde. Aber sie war weit unter ihrer sonstigen Leistung geblieben und hatte die ganze Nation und auch mich enttäuscht, die ich die Spiele vor dem Fernseher in San Francisco verfolgt hatte.
Nach Seoul schien Akemi von einem Fluch geschlagen gewesen zu sein, und sie qualifizierte sich nie mehr für einen wichtigen Wettbewerb. Inzwischen war sie dreißig, also jenseits des besten Sportleralters, nahm aber immer noch an Schaukämpfen in Schulen und Sportzentren im ganzen Land teil. Ich hatte sie einmal kurz beim Training auf dem Anwesen der Mihoris gesehen, doch sie hatte mich nicht bemerkt.
Heute nun standen die Türen zu Akemis dojo weit offen, und ich hörte stampfende Geräusche, keuchenden Atem und hin und wieder einen Schrei. Ich trat näher heran, um mehr zu sehen.
Auf der Mitte des mit einer Gummimatte belegten Bodens standen ineinander verschlungen ein Mann und eine Frau. Das wirkte fast wie die Umarmung zweier Liebender. Der Mann, der mindestens fünfundzwanzig Kilo schwerer war als Akemi, drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen sie, doch sie ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Sie fing den Druck mit einer ausgleichenden Bewegung auf, ohne den Griff an seiner Judokleidung zu lockern. Ein paar Minuten lang schoben sie sich so gegenseitig auf der Gummimatte hin und her; nur ihr schwerer Atem deutete darauf hin, wie sehr sie sich anstrengen mußten.
Die Luft war schwer von Schweißgeruch und Blütenpollen. Plötzlich mußte ich niesen. Der Mann drehte den Kopf überrascht in Richtung Tür, und Akemi hebelte ihn mit der Hüfte aus. Er landete mit einem Schrei auf der Matte.
Ich machte mich aus dem Staub. Drüben beim Haus klingelte ich an der Tür der Mihoris. Schon nach kurzer Zeit bat mich Miss Tanaka, die Haushälterin, hinein und half mir, die Schuhe in dem geräumigen, granitgepflasterten Eingangsbereich auszuziehen. Während ich in ein Paar Sommerpantoffeln aus Bast schlüpfte, fragte ich mich, ob Miss Tanaka wohl das Meerwasser roch, das nach meinem Zusammenstoß mit dem Fischhändler auf meinem Kostüm getrocknet war. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts; allerdings glaubte ich ein leichtes Zucken ihrer Nasenflügel gesehen zu haben. »Wenn Sie nun bitte allein weitergehen würden«, sagte Miss Tanaka mit einer Geste und bestätigte so meinen Verdacht.
Ich war schon ein paarmal hier gewesen und kannte den Weg durch die Flucht riesiger Räume mit tatami- Matten,wunderschönen Zen-Bildern, alten Keramiken und anderen Schätzen, die diese Priesterfamilie in den vergangenen sechshundert Jahren angehäuft hatte. Das, was ich sah, war nur ein Teil dessen, was die Mihoris besaßen; alles andere befand sich in einem Lagerraum im Tempel. Ich folgte dem Klang klassischer koto -Musik, bis ich schließlich den Raum erreichte, den Mrs. Mihori als ihr persönliches Büro nutzte. Sie kniete an einem niedrigen Tischchen voller Kunstbücher.
»Ich störe Sie«, sagte ich, die übliche Begrüßung in Japan, wenn man einen fremden Raum betrat.
»Bitte, kommen Sie doch herein. Es muß Ihnen sehr warm sein!« Nanas Blick wanderte über mein verknittertes Kostüm. »Wahrscheinlich haben Sie hier eine Klimaanlage erwartet. Es tut mir leid, daß wir ein so altmodisches Zuhause haben.«
»Ach, ich liebe
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