Zuflucht im Teehaus
das nicht erzählt?«
»So nicht.« Ironie des Schicksals: Als Hugh jung gewesen war, hatte die Familie kein Geld für ein Internat gehabt. Statt dessen hatte er eine staatliche Schule besucht und es nur an die Glasgow University geschafft, weil man ihm ein Stipendium gegeben hatte. Nach dem Abschluß hatte er in einer renommierten Anwaltskanzlei gearbeitet und einen großen Teil seines Verdienstes nach Hause geschickt, damit Angus eine bessere Ausbildung bekäme als er selbst.
»Dein Bruder raubt dir den letzten Nerv, aber trotzdem besuchst du ihn.« Ich sah den schmollenden Angus an.
»Ich bin hier, weil ich einmal um die Welt reisen will. Und da brauch ich ’nen Platz zum Schlafen.«
»Das heißt also, daß diese Wohnung für dich so was wie ein Hotel ist?«
»Nun mach mal halblang! Schließlich ist es nicht deine Wohnung.«
»Stimmt«, sagte ich und erinnerte mich wieder an das seltsame Gefühl, das ich am Vorabend gehabt hatte, als ich am Fenster gestanden war. »Egal, ich mach mich jetzt jedenfalls auf die Socken. Ich hab dir einen U-Bahn-Plan und ein paar Reiseführer in den Flur gelegt. Viel Spaß.«
»Tschüs dann.« Angus wandte sich wieder dem Fernseher zu. Zum Abschied sang er mit Falsettostimme den Titelsong der Serie »Neighbors«.
Ich fuhr mit der Hibiya-Linie dreizehn Haltestellen nach Ueno. Meine Unglückszahl, dachte ich, während ich langsam an den Straßenhändlern der Ameyoko-Discount-Shopping-Passage vorbeiging, die von getrocknetem Fisch bis zu Deos alles verkauften. Ich hatte einen Mordsmuskelkater vom Laufen am Tag zuvor und war schweißgebadet, als ich im Polizeirevier ankam.
Dort ging ich sofort zur Damentoilette, um mich ein wenig frisch zu machen. Ich hörte, wie sich jemand in einer der Kabinen übergab, wahrscheinlich eine junge, schwangere Angestellte. Ich trocknete mir gerade Hände und Gesicht ab, als sich die Kabinentür öffnete und eine Frau mittleren Alters heraustrat, um sich den Mund auszuspülen. Es war Mrs. Sakai, die Frau mit dem Leberfleck.
Sie betrachtete im Spiegel ihre hängenden Wangen mit den roten Äderchen, die geplatzt waren, als sie sich übergeben hatte. Das passierte mir auch immer. Ihr Pagenkopf wirkte schlaff und fettig, und ihr Lippenstift war verschmiert.
Ich trat einen Schritt auf den Spiegel zu, damit sie mich sah. Sie erkannte mich erst nach einer Weile.
» Aa !« rief sie entsetzt aus.
»Es geht Ihnen nicht gut. Das tut mir leid.« Das meinte ich ehrlich, trotz der Geschichte in Hita Fine Arts. Schließlich hatte sie ihren Mann verloren.
»Sie haben mich überredet, etwas zu essen, aber ich habe es nicht behalten.« Ihre Hochnäsigkeit aus dem Laden war verschwunden. Sie wischte sich den Mund mit einem sichtbar benutzten gelb-pinkfarben gepunkteten Taschentuch ab, das sie aus ihrer Tasche holte.
Ich hielt ihr eine Packung Papiertaschentücher hin, die mir am Morgen jemand an der U-Bahn-Haltestelle in Roppongi als Werbegeschenk in die Hand gedrückt hatte. Sie nahm sie nicht. Da ich spürte, daß mir nicht viel Zeit bleiben würde, sagte ich: »Jun Kuroi wollte mir nur helfen. Es war nicht seine Schuld, daß Ihr Mann gestorben ist.«
»Er wollte Ihnen helfen?« Sie klang geistesabwesend.
»Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich für die tansu einen angemessenen Preis bezahlt.«
Sie wurde rot. »Sie glauben also, nur weil ich seine Frau war, hatte ich kein echtes Interesse an der tansu !Ich darf Ihnen aber sagen, daß ich sie tatsächlich wollte … Sie war mir ans Herz gewachsen.«
»Hören Sie auf. Sie und Ihr Mann wußten doch, daß das Ding eine Fälschung ist und viel zu teuer.«
»Eine Fälschung?« Sie sah mich mit großen Augen an.
»Jemand hat die Metallbeschläge ausgetauscht. Mir ist das nicht aufgefallen. Mein Fehler hat sich als großer Vorteil für Ihren Mann erwiesen.«
»Wie können Sie in diesem Zusammenhang von Vorteil sprechen? Er ist tot, er hat keinerlei Vorteil!« Mrs. Sakai nahm eine Bürste aus ihrer Handtasche und begann ihre Haare in Ordnung zu bringen. »Mein Mann hat dem Verkäufer, von dem er die Kommode hat, einen fairen Preis gezahlt.«
»Aber warum sind Sie dann aus Hita verschwunden, wenn das stimmt?«
»Wir haben uns nach einer neuen Bleibe umgesehen«, sagte Mrs. Sakai und bürstete sich die Haare mit noch heftigeren Bewegungen. »Jedenfalls hat mein Mann Ihnen die tansu in Ihre Wohnung nach Tokio geschickt. Sie haben keinen Grund, sich zu beschweren. Aber wenn Sie mich jetzt bitte
Weitere Kostenlose Bücher