Zuflucht im Teehaus
Nachbarbalkon klettern können.
Die Leute unten auf der Straße flehten mich an, nicht zu springen, mich nicht von der Stelle zu bewegen, bis die Feuerwehr kam. Ich sah nicht zu ihnen hinunter, als ich über die Brüstung kletterte und mich auf den schmalen Vorsprung stellte. Dann arbeitete ich mich auf Zehenspitzen vor, bis ich den Balkon von Mrs. Ito fast erreicht hatte. Sie schaffen das .
Tief durchatmend streckte ich zuerst den rechten Arm und dann das Bein zur anderen Seite aus. Als ich mit gespreizten Beinen dastand, wehte der Wind mein Kleid hoch und gab mir einen weiteren Grund, meine Kletterei schnell zum Abschluß zu bringen. Mit der rechten Hand hielt ich mich fest und zog auch den linken Teil des Körpers hinüber. Dann kletterte ich über das Geländer und landete ein wenig naß, aber sicher in der feuchten Wäsche von Mrs. Ito.
15
Tokio zu verlassen wäre einfach gewesen, wenn ich Schuhe angehabt hätte. Aber in einem Schlafzimmer, in dem niemand Schuhe trug, befanden sich natürlich keine, also mußte ich Mrs. Itos Wohnung barfuß durchqueren. Meine Nachbarin war so vertieft in eine Quizsendung im Fernsehen, daß sie mich überhaupt nicht bemerkte. Sobald ich aus der Wohnung war, verließ ich das Haus über den nächstgelegenen Fluchtweg und rannte am Punk Rock Coffee Shop vorbei zum Roppongi-dori. In dem ersten Schuhladen, der auf meinem Weg lag, gab es nur Turnschuhe, und so mußte ich mich mit einem häßlichen Paar Asics zufriedengeben.
Ich probierte gerade die Schuhe an, als das Handy in meinem Matchbeutel klingelte. Ich kramte es hastig heraus und sagte hallo. Es war der Concierge von Roppongi Hills, der gern sein Englisch übte.
»Miss Shimura, ist alles in Ordnung? Leute haben mir gesagt, daß eine junge Frau vom vierzehnten Stock springen will. Nach dem Einbruch neulich habe ich mir Sorgen gemacht.«
»Aber natürlich ist alles in Ordnung. Ich habe nur ein paar … Turnübungen gemacht.«
»Tatsächlich? Ach, da kommt gerade Mr. Glendinning aus dem Aufzug. Er wirkt sehr aufgeregt. Würden Sie bitte einen Augenblick warten?«
Ich legte sofort auf und kaufte die Schuhe. In einer öffentlichen Telefonzelle neben einem Zeitungskiosk wählte ich die Nummer meiner Tante in Yokohama. Ihr Anrufbeantworter sagte mir das, was ich vergessen hatte: Die ganze Familie war in Urlaub. Ihr Haus in Yokohama war verschlossen; bei ihnen konnte ich nicht unterschlüpfen.
Danach wählte ich die Nummer des Asia Center, eines billigen Hotels, in dem ich während meiner ersten Monate in Tokio gewohnt hatte. Der Angestellte erklärte mir, daß sie nichts mehr frei hätten, was mich nicht überraschte, denn es war Hochsaison. Ich legte auf und spielte mit dem Gedanken, mich in einem Stundenhotel einzuquartieren, aber das wäre mir dann doch ein bißchen zu deprimierend gewesen. Schließlich tat ich das, woran ich schon die ganze Zeit gedacht hatte: Ich rief Akemi Mihori an.
Eine Stunde später trafen wir uns vor dem westlichen Ausgang der Kamakura Station. Akemi trug ein T-Shirt mit Simply-Red-Aufdruck sowie eine Sporthose und machte Dehnübungen am Taxistand.
Akemis Gesicht verdüsterte sich, als sie mein geschwollenes Auge sah. »Er wird Sie nicht mehr schlagen, wenn ich Ihnen erst einmal ein paar Selbstverteidigungsübungen beigebracht habe.«
»Das habe ich Ihnen doch schon am Telefon erklärt: Er dachte, ich bin ein Einbrecher. Es war keine Absicht.« Ich konnte ihr nicht erklären, wieviel schmerzhafter es gewesen war, daß Hugh unsere Beziehung Angus geopfert hatte. Das würde sie nicht verstehen.
»Heute ist ein tomobiki ;das macht es leichter für Sie, unbemerkt einzuziehen«, sagte Akemi und steuerte die Komachi-dori an, die bei den Touristen äußerst beliebte Einkaufsstraße von Kamakura.
»Was ist das?« fragte ich.
»Heute ist der freie Tag des Priesters. Er ist einmal wöchentlich und gibt meinem Vater und Kazuhito Gelegenheit, das Anwesen zu verlassen, um persönliche Dinge zu erledigen. Viele Priester spielen Golf, aber meine Familie«, sie verzog das Gesicht, »ist ins Museum gegangen. Miss Tanaka ist allerdings da, das heißt, wir können nicht im Haus essen. Ich dachte, wir gehen in ein Lokal.«
»So?« Ich warf einen Blick auf ihre knappe Sporthose.
»Das Lokal gehört der Schwester meines Trainers. Sie freut sich, wenn ich komme, egal, was ich anhabe«, sagte Akemi ganz ohne Hochmut, und als wir durch das Zentrum von Kamakura gingen, sah ich, daß alle hier sie kannten.
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