Zuflucht im Teehaus
Trinkwasserbrunnen holen«, sagte ich. Als Kind hatte ich einen wunderbaren Roman über ein Mädchen gelesen, das sich zusammen mit seinem kleinen Bruder im Metropolitan Museum versteckt und dort einige Wochen gelebt hatte, ohne entdeckt zu werden. Ich hatte mir immer schon ein solches Abenteuer gewünscht.
»Entfernen Sie sich nicht zu weit von dem Teehaus«, sagte Akemi plötzlich. »In den Hügeln gibt es Höhlen, die alten Begräbnisstätten der Mönche. Ungefähr alle zehn Jahre läuft irgendein Trottel da rauf und verirrt sich in den Tunnels. Ich weiß ja, wie sehr Sie sich für Geschichte interessieren, deswegen warne ich Sie lieber gleich.«
»Ich gehe nicht rauf, und im Teehaus bleibe ich auch nur ein paar Tage, das verspreche ich Ihnen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Ich werde die Zeit nutzen und so hart arbeiten, daß ich nie wieder von irgend jemandem abhängig sein muß.«
Da klingelte das Handy in meinem Matchbeutel. »Rei Shimura Antiquitäten!« meldete ich mich. Am anderen Ende war schweres Atmen zu hören, dann legte der Anrufer auf. Typisch. Wenn Japaner sich verwählten und sich jemand meldete, der Englisch sprach, sagten sie entweder gar nichts oder fingen zu kichern an. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Akemi zu. »Um’s noch einmal zu wiederholen: Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen und werde versuchen, Ihnen nicht zur Last zu fallen.«
»Tja, ich glaube nicht, daß Sie mir zur Last fallen. Haben Sie übrigens Mückenschutzmittel mitgebracht?«
Akemi trieb irgendwo noch eine Zitronella-Kerze auf, die groß genug war, um die ganze Nacht über zu brennen, aber sie bot keinen Schutz gegen die Zikaden, die Tausendfüßler und die tanuki – eine dunkeläugige, japanische Waschbärenart –, die alle bei mir vorbeischauten. Ich hatte nicht daran gedacht, wie dunkel der Wald sein konnte, und auch nicht daran, daß der Wind und die Geschöpfe des Waldes in der Nacht nicht schliefen. Jedesmal wenn ich eingenickt war, weckte mich ein leises Geräusch wieder auf, und mein Herz begann vor Angst zu klopfen.
Außer den Mihoris und den Mönchen kannte niemand das Teehaus, aber das gab mir nicht das Gefühl, sicher zu sein. Jetzt, wo ich allein war, wurde mir klar, wie überstürzt meine Entscheidung gewesen war. Die Schiebetüren, die gleichzeitig Teil der Wände waren, hatten kein Schloß, und die Fenster waren lediglich mit altem, zerrissenem Papier bespannt. Als ich auf dem uralten, nach Schimmel riechenden Futon lag, den Akemi irgendwo aufgetrieben hatte, kam ich zu dem Schluß, daß das Teehaus ungefähr so sicher war wie die Pappkartonunterkünfte, in denen die Obdachlosen in und um die Shinjuku Station wohnten. Doch die Obdachlosen wurden immerhin ständig von der Polizei beobachtet, während meine einzige Verbindung zur Zivilisation das Handy war.
Ironie des Schicksals, daß ich wie ein Affe vierzehn Stockwerke über dem Erdboden herumgeklettert war, um mich nun in die Fänge von Mutter Natur zu begeben. Hugh würde sich über mich lustig machen, dachte ich, bevor mir einfiel, daß er die Ursache fast all meiner Probleme war. Es hatte keinen Sinn, an ihn zu denken, nicht einmal, um mich von den Tieren abzulenken, die draußen herumkreuchten und -fleuchten.
Das Joggen am verregneten nächsten Morgen war eine Katastrophe. Ich war so erschöpft, daß ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, und jedesmal, wenn ich anfing zu jammern, riet Akemi mir, mich auf meinen Erfolg zu konzentrieren. Als der Regen zunehmend heftiger wurde, suchte ich Zuflucht unter einem Baldachin aus Glyzinien, doch weil Akemi weiterlief, bekam ich ein so schlechtes Gewissen, daß ich mich wieder zu ihr gesellte. Akemi drehte sich nicht zu mir um, hatte mich aber offensichtlich auf dem Pfad entlangquatschen gehört, denn sie verlangsamte, damit ich zu ihr aufschließen konnte.
»Das Laufen unter solchen Bedingungen ist am allerschlimmsten. Aber denken Sie an die Dusche hinterher, dann fühlen Sie sich gleich wieder gut.«
Das Wasser, das zehn Minuten später auf mich niederprasselte, war wirklich so wunderbar, wie sie gesagt hatte. Als ich fertig war, trocknete ich mich voller Bedauern ab, schlüpfte in eine Jeans und ein T-Shirt und warf meine verschwitzten Sachen in einen Wäschekorb, den Akemi mir gezeigt hatte. Während sie ein Bad nahm, machte ich eine Kanne Tee im Büro des dojo .Das einzige, was ich dort zu essen fand, waren trockene Reiscräcker – da mußte ich später wohl noch
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