Zuflucht im Teehaus
in ein Megaphon. »Kein Bogenschütze auf dem Feld hat einen Pfeil abgeschossen. Die Pfeile sind aus einer anderen Richtung gekommen. Bitte bewahren Sie Ruhe!«
Ich würde nicht warten, bis die Verantwortlichen den Schützen gefunden hatten. Ich kickte meine hohen Holzsandalen weg und mischte mich unter die Menge. Dann lief ich einfach drauflos, vorbei an den Ständen, weil ich nur noch weg wollte, an einen Ort, an dem es keine durch die Luft schwirrenden Pfeile gab.
»Lauf, Forrest Gump, lauf!« rief Angus Glendinning mir nach, als ich an dem Asahi-Bierstand vorbeirannte. Ich blieb nicht stehen, aber aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, daß Hugh den Arm, den er zuvor um Winnies Schultern gelegt hatte, sinken ließ. Also hatte er mich erkannt.
Inzwischen war mir seine Affäre mit Winnie Clancy egal. Wichtiger war mir da schon, ob der Schütze mich immer noch verfolgte. Ich drehte mich lieber nicht um, als ich jemanden hinter mir rennen hörte. Ich verdrängte alles, was Akemi mir über ein gleichmäßiges und bedächtiges Tempo beigebracht hatte, und lief den Weg, auf dem die rikisha gekommen war, entlang, so schnell ich konnte.
Ich hätte es geschafft, wenn ich nicht barfuß in eine Brennessel getreten wäre. Als ich einen Augenblick langsamer wurde, prallte jemand von hinten auf mich.
»Du läufst gar nicht übel«, keuchte Hugh.
»Geh von mir runter, bevor’s zu spät ist«, flehte ich ihn von unten an.
»Was für ein Zufall, daß du hier auf dem Fest bist! Jetzt weiß ich endlich, warum Angus unbedingt hierher wollte«, sagte Hugh, nach Luft schnappend.
»Na schön, du hast mich also aufgespürt. Aber jetzt würde ich dir raten, wieder zu Winnie zurückzugehen und mit ihr Händchen zu halten.« Ich versuchte mich unter ihm hervorzuwinden.
»Du übertreibst wieder mal schamlos. Ich hatte den Arm bloß um ihre Schulter gelegt, damit wir uns nicht in der Menge verlieren. Sie ist für mich wie eine ältere Schwester.« Hugh ließ mich nicht los.
Ich bockte kurz, und er griff sich stöhnend in den Schritt. Schwer hatte ich ihn nicht verletzt, gerade schwer genug, um meine Würde nicht zu verlieren. Ich setzte mich auf, raffte den Stoff der yukata und strich mir über den Fuß, mit dem ich in die Brennessel getreten war. »Ich muß jetzt los«, sagte ich. »Es ist mir einfach zu gefährlich hier.« Ich erzählte ihm in wenigen Sätzen, was beim Bogenschießen passiert war. »Es waren nicht die Ritter auf den Pferden; der Pfeil ist aus der falschen Richtung gekommen. Es muß jemand anders gewesen sein.«
»Komm mit mir nach Tokio.« Hugh zog mich hoch.
»Das geht nicht. Meine ganzen Sachen sind im Teehaus. Ich muß heute abend dort hin.«
»Tja, dann geh voraus. Ich lasse dich nicht allein. Nicht heute nacht.«
Noch ein paar Tage zuvor hätte ich ihm das Teehaus nicht gezeigt, aber jetzt betrachtete ich es und ihn als meine letzte Zuflucht. Ohne Taschenlampe und mit dem wunden Fuß war der Weg noch beschwerlicher als sonst. Als wir schließlich den Wald erreichten, murmelte Hugh etwas von giftigen Pflanzen. Ein kleines, zotteliges Tier rannte vor uns über den Weg und starrte uns aus gelben Augen an. Hugh hielt sich ängstlich an mir fest.
»Was ist denn das? Ein Höllenhund?«
»Das ist ein tanuki ,so was wie ein japanischer Waschbär.«
»Hast du die letzten Nächte wirklich hier verbracht? Wie kommt man überhaupt in das Ding rein?« fragte Hugh, als wir vor dem Teehaus standen.
»Die Fenster sind wie Türen. Aber nur eins funktioniert.« Ich schob das shoji beiseite und betrat den kleinen Raum. Als auch Hugh im Innern war, schob ich es wieder zu und zündete eine Zitronella-Kerze an.
Da sah ich die große Papiertüte vom Union Supermarket in der Mitte des Raumes. Ich schaute hinein und fand darin meine Kleidung, die ich in Akemis Dusche zurückgelassen hatte. Sie hatte sie mir gebracht, damit ich am nächsten Tag nicht ins Haus mußte, um sie zu holen. Wenn sie Zeit gehabt hatte, mir die Sachen zu bringen, war es nicht sie gewesen, die auf mich geschossen hatte.
»Das ist ja fast so schlimm hier wie in deiner alten Wohnung in North Tokyo. Nur noch ein bißchen minimalistischer.« Hugh schenkte der Tüte offenbar überhaupt keine Beachtung, statt dessen wanderte sein Blick über den alten Futon und die noch älteren tatami- Matten.»Soweit ich sehen kann, gibt’s hier keine Küche. Hast du wenigstens ein Klo?«
»Ich benutze die Damentoilette auf dem Tempelgelände. Und wenn’s ganz dringend
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