Zuflucht im Teehaus
weben. Ihrem Vater, dem Herrscher des Himmels, mißfiel das. Vielleicht hatte er Angst, seine kleine Tochter zu verlieren.« Während Wajin sprach, ließ er den Blick über die Menschen schweifen und sah schließlich mich an. Es war dumm von mir gewesen, ihm zu sagen, daß ich eine Fuchsmaske tragen würde, aber bestimmt hatten auch andere solche Masken.
»Deswegen verbannte der Herrscher die beiden Liebenden an entgegengesetzte Enden der Milchstraße. Die Liebenden dürfen sich nur in einer Nacht im Jahr treffen. Und diese Nacht ist heute. Heute werden sie über eine Brücke, die die Vögel für sie gebaut haben, zueinander kommen.«
Ein Schwarm Tauben, der bis dahin auf dem Schindeldach des Schreins gesessen hatte, flog auf und kreiste über der Bühne. Hatte Wajin sie mit Gedankenkraft dazu gebracht, sich in die Luft zu erheben? Nachdem er meinen blauen Fleck durch seine Berührung hatte verschwinden lassen, würde mich nichts mehr überraschen.
Wajin hob den Blick, lächelte und sah dann wieder die Menschen vor ihm an. »Tanabata ist eine magische Nacht. Mögen all Ihre Träume in Erfüllung gehen. Als erstes werden nun die Schüler der ersten Klasse aus der Kamakura Grundschule ihre Wünsche in Form von Gebeten vortragen …«
Akemi stieß mich in die Seite. »Wir müssen uns die dummen Kinder nicht anhören. Gehen wir rüber zum Bogenschießen, bevor die besten Plätze weg sind.«
»Aber ich mag Kinder.« Außerdem hatte ich es satt, ständig herumkommandiert zu werden.
»Prinzessin Orihime, ich hoffe, daß Eure Familie sich bei guter Gesundheit befindet und Euer Vater nicht mehr böse ist. Bitte helft mir dabei, meine kanji- Prüfungzu bestehen. Was noch? Ich liebe Euch!« trug ein kleines Mädchen mit rundem Gesicht und Zöpfen vor.
»Sehr gut, Michiko Otani. Möchten auch ein paar kleine Jungen ihre Wünsche oder Gebete vortragen?« fragte Wajin.
»Ich kann Kazuhito nicht ausstehen, wenn er so ist, so künstlich und falsch. Wenn Sie ihn kennen würden, wären Sie genauso angewidert wie ich«, murmelte Akemi.
»Kazuhito?« fragte ich ein wenig dümmlich.
»Ja, natürlich! Der Mann, der da spricht, ist mein Cousin! Er hält sich schon für so wichtig, daß er sich nicht mal mehr vorstellt.«
Als Akemi den Weg zum Bogenschießplatz einschlug, folgte ich ihr durch die Menge und versuchte dabei, die Fakten zu einem logischen Ganzen zu fügen. Kazuhito war also der Mann, den ich unter dem Namen Wajin kannte.
»Ich glaube, ich habe Ihren Cousin schon auf dem Gelände gesehen, aber ich dachte, er heißt anders«, sagte ich. »Ist sein Name nicht Wajin?«
»Ja, jetzt schon. Der buddhistischen Tradition gemäß erhalten Mönche einen Namen chinesischen Ursprungs statt ihres japanischen, sobald sie ganz in die Klostergemeinschaft aufgenommen sind. Die kanji- Zeichenfür den alten und den neuen Namen sind identisch, aber die Aussprache unterscheidet sich.«
Als ich mir die kanji-Zeichen für den Namen von Akemis Cousin auf dem Festivalprogramm ansah, stellte ich fest, daß sogar ich die beiden Piktogramme kannte: »Frieden« und »Mensch«. Friedfertiger Mensch war der perfekte Name für einen Buddhisten. Und ich war insgeheim froh, daß Wajin mich hinsichtlich seines Namens nicht angelogen hatte. Außerdem beeindruckte es mich, daß er trotz seines hohen Rangs freiwillig im Garten arbeitete.
Wir näherten uns dem Bogenschießplatz, einem langen, schmalen Kiesweg; unzählige Männer in Samuraikleidung waren schon mit ihren Pferden beschäftigt. Akemi schnappte sich einen Klappstuhl in der ersten Reihe, und ich setzte mich neben sie.
»Ich habe Wajin – ich meine Kazuhito – eigentlich für einen kränklichen Menschen gehalten. Angus hat an dem Tag, als ich das erste Mal mit Ihnen gelaufen bin, miterlebt, wie er in Ohnmacht gefallen ist.«
»Ja, er ist empfindlich. Ein richtiger Waschlappen«, sagte Akemi.
»Aber er arbeitet doch im Garten, oder nicht?« fragte ich vorsichtig.
»Gartenarbeit ist nicht schwierig! Er sagt, er versucht sich in allen Arbeiten, die auf dem Tempelgelände anfallen, damit er besser begreift, was die Mönche leisten müssen. Das erzählt er zumindest meinem Vater. Ich glaube, es hängt eher damit zusammen, daß er nicht viel Ausdauer hat. Er sucht immer nach Gelegenheiten, aus dem Tempel herauszukommen und mit Leuten zu reden. Meiner Ansicht nach sollte er lieber öfter den Mund halten.«
Das klang ganz nach dem Wajin, den ich kennengelernt hatte – nach dem Mann, der mir
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