Zug um Zug
wie fragil dieses europäische Projekt ist. Aktuell sind es vor allem die Deutschen, die dem Verdacht Vorschub leisten, sie könnten auf einen Sonderweg einschwenken. Mindestens in dreierlei Hinsicht verspüre ich zurzeit dieses Unbehagen, und das entspricht dem Echo, das ich auf der internationalen Bühne vernehme. Erstens das Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat in der Libyen-Frage, zweitens die radikale Wende in der Kernenergie und drittens unsere Rolle bei der Bewältigung der krisenhaften Zuspitzung in der Währungsunion: In allen drei Punkten wecken wir im Augenblick den Verdacht, wieder einen Sonderweg einzuschlagen. Jedenfalls befinden wir uns in allen drei Punkten in einer sehr isolierten Position.
Schmidt: Ich unterstreiche alle diese drei Punkte.
Steinbrück: Wir dürfen es uns aber nicht zu einfach machen –
Schmidt: Ich mache alles einfacher, als es wirklich ist.
Steinbrück: Es ist in Wirklichkeit kompliziert, weil gerade von den Deutschen Führung erwartet wird. Wenn wir einerseits darin übereinstimmen, dass die Befürchtungen, Deutschland könnte wieder einen Sonderweg einschlagen, durchaus nicht von der Hand zu weisen sind, andererseits aber feststellen müssen, dass Deutschland seine Führungsverantwortung nicht wahrnimmt –
Schmidt: Darauf würde ich immer antworten: Gleichwohl ist es vernünftig, wenn die Deutschen bei ihrer Zurückhaltung bleiben. Man kann Führung auch indirekt ausüben, ohne sich deswegen auf das oberste Podium zu stellen. In dem Augenblick, in dem die Deutschen als die Führer auftreten, haben sie fast alle anderen Europäer gegen sich. Das ist eine Frage von wenigen Monaten, bis diese Reaktion eintritt. Was im Augenblick stattfindet – und zwar seit Antritt der gegenwärtigen Koalitionsregierung –, ist die Besorgnis vor deutscher Unberechenbarkeit, die Besorgnis vor deutscher Unzuverlässigkeit. Man muss sich auf die Deutschen verlassen können. Das ist, wie ich glaube, einer der wichtigsten Grundsteine nicht nur deutscher Außenpolitik, sondern der deutschen Politik im Verhältnis zu allen unseren Nachbarn, ob es sich um außenpolitische, sicherheitspolitische, energiepolitische oder sonstige Fragen handelt. Man muss sich auf die Deutschen verlassen können. Das Schlimme ist, dass das Bild vom Janusgesicht der Deutschen nach wie vor jederzeit griffbereit ist im Instrumentenkasten ausländischer Politiker und Publizisten. Ich zitiere Maggie Thatcher, die ihrerseits Winston Churchill zitiert hat: Man hat die Deutschen entweder zu Füßen oder am Hals. Dieses Bild von den Deutschen ist jederzeit abrufbereit bei all unseren Nachbarn – sogar bei den Dänen.
Steinbrück: Ja, ich halte den Firnis für sehr dünn, mit dem alte Ressentiments gegen Deutschland überdeckt werden; er ist so dünn, dass er sehr schnell wieder durchstoßen werden kann. Das sehe ich auch in der jetzigen Krise, wenn ich mir manche Reaktionen in den mediterranen Ländern anschaue. Das schließt einerseits nicht aus, im deutsch-französischen Verhältnis eine Führungsqualität zu entwickeln, die besser ist als heute. Andererseits würde ich auch nicht so tun, als könnte man die Traumatisierung des Kontinents durch die Deutschen im 20. Jahrhundert einfach abschütteln. Einiges haben wir überwunden. Dazu hat übrigens die Fußballweltmeisterschaft 2006 mehr beigetragen als manche Politik oder Rede, jedenfalls hat sich darüber das Bild der Deutschen im Ausland deutlich positiv eingefärbt. Aber alte Ressentiments sind sehr schnell zu aktivieren.
Schmidt: Sie sind insbesondere dann ganz schnell zu aktivieren und werden auch aktiviert, wenn der Eindruck entsteht, dass Deutschland einen Führungsanspruch erhebt. Wir sind noch weit davon entfernt, ein normales Land zu werden wie jedes andere Land in Europa auch. Ich will mal ein Beispiel geben. Vor etwas mehr als 2500 Jahren – da war das israelische Volk mehr oder weniger konzentriert auf die Stadt Jerusalem – kam Herr Nebukadnezar, nahm die Bevölkerung Jerusalems als Geisel und führte sie in sein eigenes Land, nach Babylon. Diese Babylonische Gefangenschaft der Juden hat 2500 Jahre später immerhin noch so eine große Rolle gespielt im Bewusstsein der Menschheit, dass Verdi eine fabelhafte Oper daraus gemacht hat, genannt Nabucco , übrigens mit einem zu Herzen gehenden Chor der gefangenen Juden. Genauso lange wird Auschwitz im Bewusstsein der Menschheit bleiben, und darüber hinaus wird im
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