Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
Vom Netzwerk:
vernünftig halten. Aber zweitens: Ich wünsche allen jungen Leuten wenigstens sechs Monate lang das Erlebnis von Mannschaft und Gemeinschaft. Übrigens, was die drei Monate Ausbildung angeht: Die jungen Soldaten während des Zweiten Weltkrieges sind nach weniger als sechs Wochen Grundausbildung an die Front geschickt worden, und ähnlich im Ersten Weltkrieg. Lassen Sie sich nicht von den sogenannten Fachleuten überwältigen.
    Steinbrück:   Diesen Fall wollen wir aber nicht wiederholen. Ist auch beide Male schiefgegangen.
    Schmidt:   Da haben Sie recht. – Ich habe vorhin im Zusammenhang mit dem Lebensstandard im Rentenalter gesagt, dass ich der Überzeugung bin, dass der technische Fortschritt, der wissenschaftliche Fortschritt unausweichlich ist. Das Wachstum wird stattfinden, ob das den Grünen passt oder nicht passt, es wird stattfinden. Die Frage ist nicht, ob das Wachstum stattfindet und ob das wünschenswert ist, sondern die Frage ist, ob das Wachstum anständig verteilt wird, ob es pro Kopf anständig verteilt wird.
    Steinbrück:   Bevor wir uns der Frage der Verteilung des Wachstums widmen, müssen wir klären, ob der Maßstab für die Bemessung des Wachstums, das Bruttosozialproduktkonzept, vernünftig ist, ja oder nein. Daran beißen sich aber seit vierzig Jahren alle die Zähne aus, letztlich seit dem IG Metall-Kongress von 1972. Warum sage ich das? Wenn ich jetzt nach draußen gehe und trete aus Wut in den Kotflügel Ihres Autos –
    Schmidt:   Ist nicht mein Auto, Peer.
    Steinbrück:   – also in das Auto Ihres Nachbarn, und ich muss den Kotflügel ersetzen, dann erhöhe ich das Bruttosozialprodukt. Schmeiße ich eine Scheibe ein, erhöhe ich das Bruttosozialprodukt. Verringere ich die Schulabbrecherzahl in Deutschland, tue ich es nicht. Das ist die Frage, die viele beschäftigt: Was wird da eigentlich gemessen? Es gibt übrigens wieder neue Versuche – vorgetragen von Präsident Sarkozy während der französischen G20-Präsidentschaft –, sich mit diesem Maßstabsproblem zu beschäftigen. Dazu ist eine Arbeitsgruppe um den amerikanischen Ökonomen Joseph Stiglitz eingesetzt worden. Es gibt auch eine Enquetekommission des Bundestages, die Wege zu einem nachhaltigen Wachstum und gesellschaftlichen Fortschritt untersuchen soll und dabei mit dem Problem eines anderen Mess-Systems konfrontiert wird.
    Schmidt:   In dem Zusammenhang muss einmal auch deutlich gesagt werden – das braucht keine zehn Zeilen –, dass der Lebensstandard in Deutschland heute größer ist als jemals zuvor in der Geschichte der deutschen Nation. Und das gilt für alle heute lebenden Deutschen. Es gilt nicht nur für die Alten wie mich, die sich noch an Weimar und die Nazizeit und den Krieg erinnern, es gilt auch im Vergleich mit den ersten fünf Jahrzehnten der Bundesrepublik. Richtig bleibt, dass das Realeinkommen der ganz kleinen Leute im Laufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts über Gebühr zurückgeblieben ist. Das ist ein Teilausschnitt. Richtig bleibt aber auch, dass selbst von diesen Leuten niemand sagen kann: Mir ist es früher besser gegangen. Es muss ins Bewusstsein der Deutschen gebracht werden, dass es ihnen so gut geht wie niemals vorher in der Geschichte – ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie noch niemals sechzig Jahre ohne Krieg erlebt haben. Sie halten es für selbstverständlich, dass wir im Frieden leben. Aber das ist in Wirklichkeit gar nicht selbstverständlich.
    Steinbrück:   Das ist meine Ansprache an die jüngere Generation, ihnen zu vermitteln, dass dieses Europa eine Antwort auf 1945 ist und dass ich nach meinem Urgroßvater, nach meinem Großvater und nach meinem Vater die erste Generation bin, die nicht in einem europäischen Krieg verheizt worden ist. Was wir in den letzten sechzig Jahren erlebt haben, ist, gemessen an der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte und an der Gegenwart in vielen Ländern, der privilegierte Ausnahmezustand.
    Schmidt:   Richtig, weil Europa eben nicht nur eine Antwort auf 1945 ist, sondern auch eine Antwort auf 1914/18 und eine Antwort auf 1871, 1866, auf 1864, auf 1813/14 und auf 1806.
    Steinbrück:   Ja, und gleichzeitig die Antwort auf das 21. Jahrhundert. Das haben wir am Anfang unseres Gespräches schon erörtert: das europäische Projekt als Antwort auf die globalen Veränderungen und Herausforderungen, in denen Europa sich wirtschaftlich, aber auch zivilisatorisch behaupten muss. Wir sehen zugleich aber auch,

Weitere Kostenlose Bücher