Zug um Zug
Bewusstsein unserer Nachbarn die Erinnerung an die Besetzung durch die Nazis und an all ihre Schandtaten bleiben. Manches ist, zum Beispiel durch die Fußballweltmeisterschaft, ein bisschen abgesunken, aber es ist alles noch latent vorhanden und kann sehr schnell wieder hochkommen.
Es ist ein von niemandem geplanter Zufall der Weltgeschichte, dass die Vereinigung Europas und Deutschlands dazu geführt hat, dass erstens die Deutschen plötzlich die volkreichste Nation in Europa geworden sind, nach den Russen, und dass sie zweitens die wirtschaftlich leistungsfähigste Nation geworden sind. Zugleich aber sind sie immer noch im Zentrum Europas und immer noch umgeben von mehr Nachbarn als irgendjemand sonst in Europa. Das ist ein bleibendes Kennzeichen der deutschen Position, die nicht nur Nachteile hat, sondern auch viele kulturelle Vorteile. Ob die Risiken größer sind oder die Vorteile, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass diese prekäre Zentralposition bleibt, und sie bleibt auch am Ende des 21. Jahrhunderts und auch im 22. Jahrhundert.
Kein Staat in Europa hat mehr Nachbarn als die Deutschen. Daher bleibt es die höchst diffizile Aufgabe aller deutschen Regierungen, sich mit der Vielzahl dieser Nachbarn auf anständige Weise ins Benehmen zu setzen. Da sind die Isländer in einer wunderbaren Situation. Oder die Engländer: Seit 1066 haben sie keine fremden Soldaten auf ihrem Boden gehabt.
Steinbrück: Ich habe dem nichts hinzuzusetzen.
Schmidt: Dann wären wir mit unserer Stichwortliste durch?
Steinbrück: Ja, soweit ich sehe. – Dann möchte ich Ihnen eine gute Reise wünschen.
Schmidt: Schönen Dank! Es wird eine Hansereise Richtung Danzig werden.
Steinbrück: Ich kann nur empfehlen, sich Usedom anzugucken, das wirklich bezaubernd ist. Bansin, Heringsdorf, Ahlbeck – die alten wilhelminischen Villen am Strand entlang, bis hin zu den Piers: Das ist alles phantastisch renoviert worden, angeblich mit viel Geld von Hamburgern. Und wenn Sie historisch noch einen Einblick haben wollen in die deutsche Technikforschung und ihren Missbrauch während des Zweiten Weltkrieges und zu dem Wirken von Wernher von Braun, empfehle ich Peenemünde, am anderen Ende von Usedom – ganz interessant, sich das einmal anzugucken.
Schmidt: Ich habe es mal gesehen, ich bin in der Gegend zwei- oder dreimal gewesen in den letzten zwanzig Jahren. Was mich am meisten beeindruckt hat, ist diese Klosterruine östlich von Greifswald, Eldena – mehrfach gemalt von Caspar David Friedrich.
Steinbrück: Ich bin mal nach Wolgast gesegelt.
Schmidt: Über den Bodden?
Steinbrück: Ja, über den Greifswalder Bodden und dann in diesen Schlund hinein. Da kommen sie aber am anderen Ende nicht mehr raus, weil sie dann nach Polen kommen.
Schmidt: Ja, und Sie stoßen auch auf die Zugbrücke, und die ist immer gerade unten.
Steinbrück: Ja, genau. Und dann rasieren Sie sich den Mast ab.
Schmidt: Ja.
Steinbrück: Wenn Sie in Usedom sein sollten, kommen Sie leichter rüber auf die Stettiner Seite – da ist ja so ein Zipfel polnisch, und da kann man rüber. Ich weiß bloß nicht, ob es auch mit dem Auto geht oder nur zu Fuß.
Schmidt: Ich will gar nicht nach Stettin, ich will nach Swinemünde, und da muss ich mit der Fähre über die Swine übersetzen.
Steinbrück: Ja, aber Sie kommen ja von Usedom, wenn Sie immer weiter nach Osten gehen, also über Ahlbeck hinaus, nach meinem geographischen Verständnis automatisch nach Swinemünde.
Schmidt: Richtig, und dann kommt Wollin, und dann fahre ich weiter bis Slupsk, früher einmal genannt Stolp, und von da nach Danzig.
Steinbrück: Da gibt es einige Hügel in Swinemünde, und dort haben die Nazis meinen Großvater väterlicherseits umgebracht.
Schmidt: In Swinemünde?
Steinbrück: Ja, er wohnte in Stettin und wurde im Februar/März 1945 eingezogen, wahrscheinlich Volkssturm. Er sollte die Verantwortung für hundert Leute übernehmen und sich mit ihnen den anrollenden Russen entgegenstellen; er hat sich geweigert, weil er es für verantwortungslos hielt, und die Nachrichten, die meine Familie später erhielt, lauteten, dass er dann in einem Schnellverfahren hingerichtet worden ist.
Schmidt: Ich war 1940 ein paar Monate in Stolpmünde stationiert. Das war ein Flakschießplatz, da schoss man in die Ostsee.
Steinbrück: Das ist aber auf der anderen Seite, östlich von Stettin, oder?
Schmidt: Weit
Weitere Kostenlose Bücher