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Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
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Clement hinaus Mitstreiter in der Breite.
    Schmidt:   Es hat gegen Ende der fünfziger Jahre eine Reihe von Themen gegeben, die wir hin und her bewegt haben. Ein Thema war die Entthronung des Marxismus. Das berühmte Godesberger Programm von 1959 hat den Marxismus zwar nicht beiseitegeschoben, aber es hat ihn in den gleichen Rang heruntergestuft wie das Prinzip der Marktwirtschaft und in den gleichen Rang wie das Prinzip des Sozialstaats. Oder nehmen Sie das Thema der Westbindung, die Bejahung des Bündnisses mit Amerika, oder das Thema der Bejahung der europäischen Integration. Für Kurt Schumacher – der ist 1952 gestorben – war die Integration der damaligen Bundesrepublik Anathema. Ich habe das selber noch zu spüren bekommen. Ich schrieb 1948/49/50 in einem kleinen Parteimitteilungsblättchen hier in Hamburg Aufsätze, in denen ich mich aussprach für die Bejahung der damals von den Alliierten eingerichteten sogenannten Ruhrbehörde und für die Bejahung des Schuman-Plans. Und mein Parteivorsitzender, Kurt Schumacher, schrieb einen Brief an den Hamburger Parteivorsitzenden: Das geht nicht, ihr müsst diesem Schmidt das Handwerk legen. Da hat die Hamburger SPD zurückgeschrieben: Das tut uns leid, Genosse Schumacher, bei uns herrscht Meinungsfreiheit. Die haben den Schmidt gewähren lassen und haben ihn drei Jahre später sogar in den Bundestag geschickt. Ich erzähle das nur, um darzutun, wie weit sich die Sozialdemokratie in der kurzen Zeit vom Tod Schumachers bis zum Godesberger Programm bewegt hat.
    Wenn Sie mich jetzt fragen, wo sind solche Leute heute, dann muss ich sagen: Ich bin zu alt, ich kenne die heutigen Fünfzigjährigen nicht persönlich, ich kenne auch die Sechzigjährigen kaum noch. Peer, Sie sind eine Ausnahme. Der Altersabstand verhindert, dass man einen Überblick behält über das möglicherweise verfügbare Personal.
    Steinbrück:   Die SPD neigt heute leider immer noch zu Nachhutgefechten. Statt stolz zu sein auf das, was gelungen ist, werden Debatten darüber geführt, was während der Regierungszeit 1998 bis 2005 eventuell richtig und was ganz sicher falsch gewesen ist. Ich vermisse eine nach vorn gerichtete Debatte, die die zentralen Themen des zweiten Jahrzehnts aufgreift.
    Es geht um die Auswirkungen der Demographie auf den Sozialstaat und seine Finanzierung, um das Bildungssystem als Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, um die Bewältigung von Integrationsproblemen – die stellen sich nicht nur im Zusammenhang mit der Bewältigung von Zuwanderung oder Einwanderung. Es geht um die Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt, und es geht um die in meinen Augen zentrale Herausforderung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihre Belohnung mit dem Zusammenhalt und Ausgleich in unserer Gesellschaft zu verbinden. Das ist übrigens für mich ein mögliches Alleinstellungsmerkmal der SPD – für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu sorgen als Basis unseres Wohlstands und gleichzeitig der Frage nachzugehen: Wie halte ich den Laden so zusammen, dass die innere Friedfertigkeit und die Fairnessgebote dieser Gesellschaft nicht in Frage gestellt sind? Da sehe ich andere Parteien nicht in derselben starken Position wie die SPD. Der Punkt ist nur, ob die SPD dieses Sowohl-als-auch zur Geltung und auf die politische Tagesordnung bringt.
    Schmidt:   Woran scheitert das bisher? Warum kommen diese Debatten nicht in Gang?
    Steinbrück:   Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich habe in anderem Zusammenhang mal davon gesprochen, dass es in der SPD so etwas wie das Problem einer strukturellen Verspätung gibt. Sie hält an parteiverträglichen Positionen lange fest, obwohl sich manches um sie herum verändert hat. Sie stellt sich den Problemen dann, wenn sie vor ihr aufbrechen. Und dann ist die Not groß, solide und angemessene Antworten zu finden. Ich will ein Beispiel geben. Dieses Buch von dem Sarrazin, das ist sozialdarwinistischer Mist mit einem reichlich verquasten genetischen Überbau, kann man vergessen. Darüber gibt es in der SPD eine breite Empörung, bis hin zu der Forderung, der Mann muss ausgeschlossen werden. Aber wenn ich die sozialdemokratischen Parteifreunde und -freundinnen gefragt habe, warum denn über eine Million Menschen dieses Buch gekauft haben, warum dieses Buch denn auf ein solches Interesse gestoßen ist, kriegte ich keine Antwort. Ich habe versucht, ihnen selber eine Antwort zu geben: Weil die Menschen nach einem Stichwortgeber gesucht

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