Zug um Zug
werden sollte. Ich wiederhole: Wir wissen immer viel besser Bescheid, wie man die Sozialversicherung reformiert, als wie man die Bankaufsicht reformiert. Das ist eine der immer noch andauernden Schwächen meiner Partei.
Steinbrück: Es ist auch meine Partei, Helmut. Deshalb empört es mich ja so, wie die konservativ-liberalen Parteien uns manchmal vorführen. Wir holen für sie die Kastanien aus dem Feuer, indem wir längst überfällige schmerzhafte Reformen in die Wege leiten oder kompetentes Krisenmanagement betreiben, und sie schreiben sich die Erfolge zu. Wir sehen es bei der Agenda 2010; wir sehen es jetzt noch viel dramatischer bei dem, was sich in Griechenland abspielt, eine Tragödie, für die nicht die jetzige Regierung von Giorgos Papandreou, sondern vor allem die konservative Vorgänger-Regierung verantwortlich ist. Es gibt noch andere Beispiele. In Holland und Dänemark haben sich die Sozialdemokraten als harte Reformer gegenüber den Konservativen hervorgetan –
Schmidt: Da gibt es einen wichtigen Unterschied. Die sozialdemokratischen Parteien in Holland genauso wie in Dänemark – das gilt übrigens für ganz Skandinavien, und es gilt auch für die SPÖ in Österreich – waren in Bezug auf ihre wirtschaftspolitische Kompetenz der westdeutschen Sozialdemokratie immer ein wenig überlegen. Wenn Sie heute nach Dänemark schauen, sehen Sie eine relativ große Zufriedenheit des Volkes mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, eine Beweglichkeit des Arbeitsmarktes, wie man sie sich nur wünschen kann. Natürlich muss mancher Däne im Laufe seines Lebens den Beruf wechseln, nicht nur die Stelle, sondern den Beruf, und das tut er auch. Andererseits sind Exzesse persönlicher Bereicherung in Dänemark wie auch im übrigen Skandinavien ganz selten. Das heißt: Die ökonomische Kompetenz der linken Volksparteien in diesen Staaten hat die gesellschaftlichen Wertmaßstäbe ihrer Gesellschaften insgesamt beeinflusst. Es kommt hinzu die Bescheidenheit, mit der die Dänen oder die Finnen oder die Norweger auftreten. Gehen Sie in ein Hotel in Kopenhagen und vergleichen Sie das mit den großartigen Hotels, die neuerdings in Berlin wie Pilze aus dem Boden schießen. Im Norden ist alles mindestens eine Nummer bescheidener als bei uns, aber der Lebensstandard des Volkes ist derselbe wie hier.
Steinbrück: Mir ging es um das, was ich das reformpolitische Paradoxon nenne. Ich glaube, dass es einer konservativ-bürgerlichen Partei leichterfallen würde, beispielsweise eine umfassende Reform des Bildungssystems durchzusetzen, die auf eine stärkere Integration und eine größere Offenheit hinausläuft, weil sie nicht den Verdacht hervorruft, das Gymnasium abschaffen zu wollen. Und umgekehrt wird nur eine sozialdemokratische Partei in der Marktwirtschaft bestimmte Anpassungen vornehmen können, etwa im Sinne von Entbürokratisierung, Förderung des Unternehmertums, Neujustierung des Sozialstaates, weil die Sozialdemokratie eher dem Verdacht entgegenwirken kann, sie wolle darüber den Manchester-Kapitalismus wieder einführen. Die möglichen Vetomächte werden in dem einen wie in dem anderen Fall minimiert.
Dass die Sozialdemokratie nicht dafür belohnt worden ist, was sie mit der Agenda 2010 zustande gebracht hat, liegt teils an ihr selbst, weil sie sich selbst dementiert und sich sogar von den Erfolgen verschämt distanziert hat. Dass sich die SPD die Reformagenda zusammenschießen ließ auf die Chiffre Hartz IV, ist einer der großen Fehler in der innerparteilichen Debatte gewesen, und daran waren einige Gewerkschaften nicht ganz unbeteiligt.
Schmidt: Das ist sehr freundlich ausgedrückt.
Steinbrück: Es war schwer erträglich. Aber Reformen sind der Sozialdemokratie nie mit politischer Anerkennung und politischem Zuspruch gedankt worden. Sie ist eher durch eine weitere Auflösung ihrer Stammwählerschaft dafür bestraft worden. Es kennzeichnet denn auch die innere Gemütslage der SPD, zu wissen, man ist der nützliche Idiot. Ich erinnere mich an Überschriften in den Jahren 2000 und 2001: Der kranke Mann in Zentraleuropa – so wurde Deutschland damals bezeichnet – muss endlich in ein Trainingscamp und wieder fit gemacht werden.
Es wird heute ja gern vergessen, in welcher Situation wir damals waren. Nach der Bundestagswahl 2002 war die rot-grüne Koalition, gerade knapp wiedergewählt, in einem ziemlich angestrengten Zustand. Die Pressemeldungen zur Jahreswende 2002/2003 habe ich noch
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