Zug um Zug
haben, der die in ihren Augen tabuisierten Integrationsprobleme aufgreift. Aber es hätte die SPD sein müssen, die diese von vielen Bürgern hautnah empfundenen Probleme rechtzeitig, lange vor dieser Buchveröffentlichung, hätte aufgreifen und einer öffentlichen Debatte zuführen müssen. Einer der wenigen, die das praktisch getan haben, ist der Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, der deshalb von Teilen der SPD in Berlin massiv angefeindet wurde; auch ihn wollten einige aus der Partei ausschließen.
Dabei war das Thema von einer Reihe von Sozialwissenschaftlern längst aufgearbeitet und sehr viel präziser analysiert worden als von Herrn Sarrazin, zum Beispiel von Gunnar Heinsohn. Die SPD hat aber nicht die Plattform geboten, wo Leute sich darüber streitig hätten auseinandersetzen können. Dabei wäre vielleicht einiges zur Sprache gekommen, was mit dem parteiverträglichen Kodex nicht übereinstimmt, der lange Zeit fast romantischen Vorstellungen von der Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft anhing und dabei den Akzent, durchaus sympathisch, leichten Herzens auf den Minderheitenschutz legte. Das Interesse oder auch die Probleme einer einheimischen Mehrheit gerieten demgegenüber verspätet auf den Bildschirm. Manch einer hat bei diesem Thema wie auch bei einigen anderen Themen vielleicht Manschetten, gegenüber einer Mehrheitsmeinung der SPD couragiert aufzutreten, weil die eigene Parteikarriere auch davon abhängig ist, dass man sich dem Mainstream ergibt.
Schmidt: Die Feigheit vor den eigenen Parteifunktionären spielt leider oft eine große Rolle. Das ist so. Jemand, der genug Selbstbewusstsein hat und seine eigene Meinung vorträgt, von der er weiß, er hat sie sich sorgfältig erarbeitet, der wird in Kauf nehmen müssen, dass seine Karriere dadurch beendet wird. Jemand, der das nicht in Kauf nehmen möchte, den würde ich deswegen nicht als Feigling abqualifizieren wollen, aber er ist zur Führung deutlich weniger befähigt als ein anderer, der bereit ist, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Ein Regierungschef oder ein Minister oder ein Fraktionsvorsitzender muss das Risiko, abgewählt zu werden, bewusst in Kauf nehmen.
Ich selber war dreimal entschlossen zurückzutreten, wenn ich mit meiner Position nicht durchgekommen wäre: nicht nur beim NATO-Doppelbeschluss, sondern schon bei der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm durch die Baader-Meinhof-Verbrecher und abermals während der Wochen der Entführung von Hanns Martin Schleyer. Ich war innerlich durchaus darauf eingestellt, dass dieses überaus riskante Unternehmen, irgendwo in Ostafrika, in Somalia, in einem fremden Staat, der über eine eigene Armee verfügte, mit deutschen Polizeibeamten ein Flugzeug zu entsetzen, in dem die Menschen alle schon gefesselt und mit Alkohol begossen waren, damit sie schön brennen in dem Augenblick, wo gezündet wird, dass dieses riskante Unternehmen, das Flugzeug zu entsetzen, natürlich auch schiefgehen konnte. Und ich war fest entschlossen, in diesem Fall zurückzutreten.
Steinbrück: Ein Politiker muss dazu bereit sein, seiner Überzeugung folgend auch zurückzutreten. Da kann ich Sie sehr gut verstehen. Auch für mich hat es einen solchen Zeitpunkt im Januar/Februar 2009 gegeben. Es ging um die Verstaatlichung von Hypo Real Estate, und ich wollte es nicht zulassen, dass zwar alle Risiken auf den Staat und damit letztlich auf den Steuerzahler abgewälzt wurden, der Staat aber keinen Einfluss ausüben sollte. Ich konnte mich durchsetzen.
Schmidt: Peer, Sie haben vorhin gesagt, dass es die Aufgabe der SPD sein müsse, einerseits wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu garantieren und andererseits dafür zu sorgen, dass der gesellschaftliche Konsens in diesem Lande erhalten bleibt. Ich stimme Ihnen zu. Aber ich erinnere daran, dass die deutsche Sozialdemokratie nur selten über das Personal verfügte, das in der Lage war, wirtschaftliche Zusammenhänge zu begreifen und zu gestalten.
Diese Schwäche wurzelt tief im 19. Jahrhundert; sie wird vorübergehend unterbrochen durch einen Mann wie Rudolf Hilferding (allerdings mehr durch sein Buch Das Finanzkapital als durch seine kurze Tätigkeit als Finanzminister), wird dann später unterbrochen durch Karl Schiller und – was weiß ich – noch später durch Peer Steinbrück, aber Wirtschaftskompetenz teilt sich bisher dieser großen Volkspartei insgesamt nicht wirklich mit. Die deutsche Sozialdemokratie ist dadurch
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