Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zug um Zug

Zug um Zug

Titel: Zug um Zug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt / Peer Steinbrück
Vom Netzwerk:
Konservativen, dass in seinem Amtszimmer Bismarck hing – in meinem Amtszimmer hing August Bebel.
    Sie sprachen vorhin im Zusammenhang mit der großen Koalition von einem Zeitenwechsel. Nach meiner Wahrnehmung trat das, was Sie Zeitenwechsel nennen, erst 1968 mit der Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten ein. Heinemann selber hat damals sogar von einem »Stück Machtwechsel« gesprochen. Und ich füge hinzu: Eigentlich wollten Herbert Wehner und ich die große Koalition nach 1969 fortsetzen.
    Steinbrück:   Ich empfand jedenfalls, dass es einen gewissen Durchzug durch diese Republik gab und manche politischen Tabus und Verdrängungen aufgelöst wurden. Ich denke zum Beispiel an die Hallstein-Doktrin, die allerdings erst nach 1969 auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen wurde. Kennzeichnend für die Ära von Willy Brandt bleibt der Satz aus seiner ersten Regierungserklärung vom September 1969: »Mehr Demokratie wagen«. Das war ein Aufbruchsignal aus den autoritären, obrigkeitsorientierten Strömungen der alten Bundesrepublik. Mit seiner Regierungszeit verbinde ich nicht nur die großartige Politik der Ostverträge, sondern auch die Öffnung der Politik für jene Künstler und Intellektuellen, die sich noch wenige Jahre zuvor als »ganz kleine Pinscher« qualifiziert sahen. Gelitten habe ich allerdings unter dem Radikalenerlass, den ausgerechnet Willy Brandt in die Welt gesetzt hat.
    Schmidt:   Vielleicht darf ich hier bemerken, dass ich Willy Brandt und Herbert Wehner dringend davon abgeraten habe.
    Steinbrück:   Dieser Radikalenerlass hat mich Mitte 1976 vier Monate arbeitslos gemacht, weil ich 1972 während meines Studiums in Kiel in einer politisch völlig harmlosen Wohngemeinschaft lebte, in der ausgerechnet ich die linkeste Figur war. Diese WG war eines Tages dem schleswig-holsteinischen Verfassungsschutz als verdächtig gemeldet und im Mai 1972 von 15 Polizisten gestürmt worden. Die Folge war, dass ich anschließend, obwohl ich lediglich als Zeuge in einem dann eingestellten Verfahren auftauchte, in einer Kartei des Verfassungsschutzes ein Eigenleben führte.
    Schmidt:   Und Sie können Gift darauf nehmen, Peer, dass Sie immer noch in der Kartei sind. Viele Landesregierungen haben damals den von ihnen mitbeschlossenen Erlass in einer üblen Weise praktiziert.
    Steinbrück:   Willy Brandts große Verdienste in der Außenpolitik wurden nach meiner Erinnerung innenpolitisch von einer deutlichen Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung durch die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 begleitet.
    Schmidt:   Das 1976 durch das Mitbestimmungsgesetz ergänzt wurde.
    Steinbrück:   Was Ihre Regierungszeit betrifft, Helmut, setzte sie nach meiner Erinnerung mit dem ersten sogenannten Weltwirtschaftsgipfel 1975 in Rambouillet einen Akzent, der die folgenden Jahre bestimmen sollte. Ich war damals sehr froh, dass nach der ersten Ölpreiskrise und den anschließenden ökonomischen Verwerfungen über die zweite Ölpreiskrise hinaus und auf dem Höhepunkt der Terroristenanschläge ein Mann wie Sie mit hohem ökonomischem Sachverstand und hoher moralischer Integrität Bundeskanzler unseres Landes gewesen ist.
    Schmidt:   Schönen Dank für die Blumen. Was die Reformen der Ära Brandt angeht, so wurden die Grundlagen hierfür im Übrigen lange vor der Übernahme der Kanzlerschaft durch Willy Brandt geschaffen. Ich erinnere an den schon mehrfach erwähnten Fritz Erler. Er, Carlo Schmid und Herbert Wehner, diese drei waren in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die treibenden Personen, um der Sozialdemokratie nicht nur ein anderes Profil zu geben, sondern auch um die politischen Inhalte der Sozialdemokratischen Partei zu renovieren. In dem damaligen Slang innerhalb der eigenen Fraktion hießen die drei die Reformer. Und ich war damals ein Mitläufer dieser drei Reformer.
    Steinbrück:   Diese Reformen in der sozialdemokratischen Programmatik wurden in einem längeren Prozess Ende der fünfziger Jahre eingeleitet – also mit einer langen Vorlaufzeit vor der ersten Regierungsbeteiligung der SPD nach dem Krieg 1966. Demgegenüber wurde die Reformagenda 2010 während der Regierungszeit der SPD 2003 verkündet. Das war eine große Hypothek für die Kommunikation, denn ein solcher notwendiger Kurswechsel musste ja nicht nur verstandesmäßig, sondern auch emotional angenommen werden. Im Übrigen fehlten Gerd Schröder über Franz Müntefering und Wolfgang

Weitere Kostenlose Bücher