Zugriff
dreistöckigen Wohnblocks. Uns folgten der Einsatzleiter und ein Polizeipsychologe. Der Gerichtsvollzieher zeigte uns die massive Holztür, und ich schlich mich seitlich heran, hob vorsichtig die Aluminiumklappe hoch und spähte hinein. Wie eine Stunde zuvor der Gerichtsvollzieher bekam ich einen Mordsschrecken. Das war eindeutig mehr als erwartet. Und bedrohlicher. Jedenfalls hatte der Gerichtsvollzieher nicht übertrieben. Ein Zweimetermann mit einem Gewicht von sicher 150 Kilo fuchtelte in unmittelbarer Nähe zur Tür mit einem Beil herum. Als er meine Augen im Briefkastenschlitz bemerkte, riss er das scharf geschliffene, mörderische Werkzeug hoch und deutete einen Hieb gegen die Wohnungstür an. Ich wich zurück und sprang seitlich in Deckung. » Was ist passiert?«, flüsterte Rainer mir zu. Ich gab ihm und den beiden anderen zu verstehen, mir leise zu folgen, und schilderte ihnen in sicherer Entfernung die Situation.
Was sollten wir tun? Wir waren ratlos, und auch der Psychologe hatte keine Lösung parat. Durch den Gerichtsvollzieher wussten wir lediglich, dass der Mann auf seinen Versuch, mit ihm zu reden, ausgesprochen aggressiv reagiert hatte. Gemeinsam beratschlagten wir unser Vorgehen und diskutierten die unterschiedlichsten Optionen und Fragen. War es vielleicht besser abzuwarten, bevor man weitere polizeiliche Maßnahmen anordnete, sprich die Wohnung gewaltsam öffnete? Und wie könnte es sonst weitergehen? Unter welchen Bedingungen war ein Zugriff überhaupt möglich? Wie hoch musste das Risiko für unsere Beamten beim Erstürmen der Wohnung eingeschätzt werden?
Inzwischen war von drinnen kein Laut mehr zu vernehmen. Ich gab Wolfgang ein Zeichen, durch den Briefkastenschlitz erneut die Lage zu sondieren. Nahezu geräuschlos schlich er sich zur Tür, hob leise die Klappe hoch und riskierte einen Blick. » Nichts! Es ist nichts mehr zu sehen«, meldete er uns.
Während wir zu diesem Zeitpunkt eher zum Abwarten neigten, kam plötzlich eine alte Frau schwerfällig die Treppen vom ersten Stock herunter. Ihr Gesicht drückte Verzweiflung aus, leise weinend wandte sie sich flehentlich an uns: » Mein Sohn ist schwer krank. Er hat schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Damals wurde er gerade noch rechtzeitig gerettet. Ihr müsst was tun! Wenn es so ruhig ist da drinnen, dann hab ich Angst, er probiert es wieder. Bitte helft ihm, er ist doch krank.«
Jetzt standen wir unter Handlungszwang. Anscheinend hatten wir es mit einem Mann zu tun, der in erster Linie sich selbst gefährdete. So legten wir zumindest die Worte der Mutter aus. Da gab es kein langes Überlegen, kein Zögern – ein schnelles Eingreifen war gefragt, um das Leben des psychisch Kranken nicht zu gefährden. Nachdem auch Einsatzleiter und Polizeipsychologe einer Öffnung der Wohnung zugestimmt hatten und vorsorglich ein Notarzt angefordert worden war, verteilte ich schnell die Aufgaben für den Zugriff. Viele waren wir ja ohnehin nicht, denn Verstärkung war bislang nicht eingetroffen.
Obwohl wir nach den Auskünften der Mutter nicht mit einer Gefährdung für andere rechneten, gingen wir mit der üblichen Umsicht vor. Norbert und Rainer sollten in die Wohnung eindringen. Wolfgang würde den Flur ausleuchten, falls es drinnen zu dunkel war, und ich übernahm die Sicherung, war somit der Einzige mit gezogener Waffe. Große Absprachen waren nicht erforderlich. Die ständigen Übungen sorgten dafür, dass wir bestens aufeinander eingespielt waren und jeder wusste, was er zu tun hatte. Zudem pressierte es gewaltig, da schien ohnehin jedes Wort zu viel. Ich sah gerade noch, wie ein uniformierter Polizist die alte Frau nach oben in ihre Wohnung führte, als Norbert und Rainer schon eine schwere Stahlramme gegen die Tür donnerten. Dann sprang sie auf, wurde aus der Verriegelung gerissen und hing nur noch lose in den Angeln.
Der Weg war frei, doch keine Spur von unserem Zweimetermann. Nun gut, dachte ich mir, schließlich hatten wir ihn zuvor durch den Briefkastenschlitz schon nicht mehr sehen können. Er musste also in einem der angrenzenden Zimmer sein. Vorsichtig pirschten wir uns durch den rechteckigen, etwa vier Quadratmeter großen Flur, von dem zwei Türen abgingen. Wir konzentrierten uns auf die linke, die – wie wir von der Mutter wussten – ins Schlafzimmer führte. Vermutlich war er dort. Während Norbert und Rainer sich für den Zugriff seitlich der Tür aufstellten, ging ich direkt
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