Zugriff
langweilig war es jedoch nie. Dafür sorgte schon der Nervenkitzel bei jedem neuen Einsatz, die manchmal schier unerträgliche Spannung, die erst im Augenblick des Zugriffs absoluter Ruhe und kühler Überlegung wich. Ich bin oftmals gefragt worden, woran ich gedacht habe, wenn wir zu einem Einsatz ausrückten. Schwer zu sagen. Das hing davon ab, über welche Informationen wir zu diesem Zeitpunkt verfügten. Oft erfuhren wir erst vor Ort, worum es sich handelte. Ob wir es mit einem Profigangster zu tun hatten, einem psychisch Kranken oder einem eifersüchtigen Ehemann oder Lover, der ausgerastet war. Solange wir nichts Näheres wussten, konnten wir uns auch nicht mit den Hintergründen der Tat befassen. Was vielleicht ganz gut war. Unsere Aufgabe bestand schließlich darin, einen Täter dingfest zu machen oder ein Geiseldrama zu beenden. Die Täterpsyche auszuleuchten, das war Sache speziell geschulter Kollegen und Polizeipsychologen, die uns bei den meisten Einsätzen unterstützten. Sie halfen uns, indem sie für unsere Vorbereitungen Zeit herausschlugen, den Täter durch Gespräche hinhielten. Wir waren dankbar für jede Minute, denn ein überstürzter, risikobehafteter Zugriff war nie das Mittel der Wahl.
Bei allen Einsätzen, so unterschiedlich sie sein mochten, gab es nämlich ein unumstößliches Gebot. Absoluten Vorrang hatte der Schutz Unbeteiligter und insbesondere der von Geiseln. Notfalls durch Waffengewalt. Natürlich schoss niemand leichten Herzens auf einen Geiselnehmer, doch die Prioritäten waren eindeutig geklärt. Und das war es auch, was mir zumeist auf der Fahrt zu unseren Einsätzen durch den Kopf ging: Hoffentlich läuft alles unblutig ab, hoffentlich kommt kein Unschuldiger zu Schaden, kein Kollege und ich selbst nicht. Ich dachte an meine Familie, die mich abends zurückerwartete. Was würde meine Frau sagen, meine Kinder, wenn ich nicht käme? Und deshalb begleitete einen stets die Angst, einen Fehler zu machen, der fatale Konsequenzen haben könnte.
Ich weiß, dass es anderen genauso ging. Und damit das so selten wie möglich passierte, dafür sorgte ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm. Ausnahmesituationen wurden so oft durchgespielt, bis sie Routine waren und jeder Handgriff saß. Für jede denkbare Einsatzlage gab es taktische Konzepte, und wir lernten es, Rückschlüsse auf das wahrscheinliche Verhalten des Täters zu ziehen. Mit der Zeit hatten wir also eine Menge Tricks auf Lager. Und nicht zuletzt lag das Geheimnis des Zugriffs im grundsätzlichen Wissen um die Gesamtumstände und im Zusammenspiel innerhalb der Gruppe und des ganzen Kommandos. Was ein hohes Maß an Disziplin und Bereitschaft zur Unterordnung voraussetzte und kaum nach dem Geschmack von Möchtegern-James-Bonds gewesen sein dürfte.
Deshalb soll in diesem Buch nicht nur von spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Aktionen die Rede sein, sondern auch vom ganz normalen Alltag in einer Elitetruppe, von lebensgefährlichen Situationen ebenso wie von skurrilen Begebenheiten oder vergeblichen Einsätzen, bei denen der Täter uns ein Schnippchen schlug – was leider gelegentlich passierte.
In zwei Jahrzehnten erlebte ich so einiges und nahm an annähernd 1000 Einsätzen an vorderster Front teil. Es handelte sich um Terrordrohungen jeder Art, um Bekämpfung von Schwerst- und Gewaltkriminalität, um Erpressungen und Entführungsfälle – darunter auch ein Flugzeug, das von einem tschetschenischen Rebellen in München zur Landung gezwungen worden war. Und immer wieder um Geiselnahmen, die für mich stets eine besondere Rolle spielten. Bei mehr als 30 war ich im Einsatz, vier Geiselnehmer wurden getötet, einer richtete sich selbst, und fast 70 Opfer konnten wir befreien. Zum Glück musste ich es nie erleben, dass ein Unschuldiger ums Leben kam, weder eine Geisel noch ein Kollege. Die unglücklich verlaufene Geschichte nach einem Bankraub in der Münchner Prinzregentenstraße von 1971 – 18 Menschen wurden als Geiseln genommen, eine junge Angestellte kam bei der anschließenden Schießerei ums Leben – war noch lange tief und schmerzhaft im Bewusstsein der Münchner Polizei verwurzelt. Ebenso natürlich das Desaster von 1972: der gescheiterte Versuch, elf israelische Olympiateilnehmer aus der Hand eines palästinensischen Terrorkommandos zu befreien. Damals starben auf dem Bundeswehrflughafen Fürstenfeldbruck alle Geiseln sowie ein Polizist und fünf Attentäter. Besonders Letzteres machte deutlich, dass normale
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