Zuhause ist ueberall
und die Großen sind zu groß, um mir wirkliche Spielgefährten zu sein. Ich bin also viel allein. Das bedeutet, dass ich mir meine eigene Welt erschaffen muss, eine angelesene und angeträumte, zu der niemand Zugang hat. Dabei spielt mein Schreibtisch eine wichtige Rolle. Dieses Möbel ist mein Heiligtum. Es hat mehrere Schubladen, eine davon ist geheim und birgt meine kostbarsten Schätze. Sie müssen zuerst gerettet werden, wenn einmal das Haus brennen sollte. Dazu gehören mein Tagebuch, ein Würfel aus Bernstein und eine selbstgenähte Tasche aus blauem Samt mit den Briefen, die mein Bär Bimbi mir geschrieben hat. Bimbi, ein Waschbär mit freundlichen Knopfaugen, ist mein engster Kumpan. Seine Briefe sind meist Hilferufe in höchster Not, wenn Bimbi etwa von Räubern entführt und als Geisel gehalten wird. Die Briefe erreichen mich in letzter Minute, aber rechtzeitig, damit ich ihn unter Lebensgefahr retten kann.
Der Schreibtisch ist das wichtigste Stück in meinem Zimmer. Dieses Zimmer ist meine Fluchtburg und mein Refugium. Mein grünweißes Couchbett steht hier, ein Tisch, ein Sofa, auf dem die Stofftiere inklusive Bimbi sitzen, ein Waschtisch und ein Bücherregal. Über meinem Bett hängt ein herrliches Bild, viele Engel darstellend. Das Fenster geht nach Osten. Ich kann zuschauen, wenn hinter dem Park vor unserem Haus die Sonne aufgeht und die grauen Häuser dahinter in ein rosiges Licht taucht. Ich liebe mein Zimmer. Es ist eigentlich zu schön für ein Kind. Nebenan schlafen die Buben und auf der andern Seite das Fräulein und Michael.
Sobald ich lesen kann, wird die Welt der Bücher meine Welt, und die Gestalten in den Büchern werden fast wichtiger als die Menschen im wirklichen Leben. Die Stunde, in der ich lesen lerne, ist eine Sternstunde, an die ich mich noch heute ganz genau erinnere. Ich liege auf dem Bauch in meinem Zimmer auf dem Teppich, vor mir ein grüngebundenes Buch mit dem Titel »Hans Eichhorn, der Lausbub«. Es handelt von einem Eichhörnchen. Ich tue so, als ob ich lese, wie ich es bei den Erwachsenen gesehen habe. Aber plötzlich formen sich die Buchstaben, die ich gelernt habe, zu Wörtern und die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu einer Geschichte. Ich kann lesen! Die Eichhörnchengeschichte ist übrigens enttäuschend. Aber andere Geschichten folgen, und die sind wunderbar. Ab jetzt, sagt mein Vater, musst du dich nie mehr langweilen. Er hat recht. Wie die meisten einsamen Kinder habe ich fortan ständig die Nase in einem Buch, so lange, bis mich irgendein Erwachsener mit dem Ruf: »Du verdirbst dir ja die Augen«, an die frische Luft scheucht.
Barbara mit ihren Brüdern Hans Heinrich, Jakob und Michael
Michi, der Jüngste in der Familie, ist ein Spätling, ein verträumtes Kind, dem ich übelnehme, dass es keine Anzeichen erkennen lässt, dem gängigen Ideal des deutschen Jungen zu entsprechen. Er ist ganz und gar, noch mehr als ich, dem Fräulein ausgeliefert. Täglich muss er mit diesem spazieren gehen, und er erzählt mir viel später, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass das Fräulein bei diesen Spaziergängen heimliche Rendezvous mit ihrem Freund absolviert hat und Michi derweil bei einer Vertrauten warten musste. Dieser geheimnisvolle Freund ist manchmal ein SS-Mann und manchmal ein gewisser Ingenieur Springer, ein etwas bedrohlicher Mensch mit einem Schlapphut. Was davon Phantasie und was Tatsache ist, wird nie wirklich klar. Genau weiß man das bei Michi nie. Unserer Mutter erzählt er von alldem nichts.
Die Namen von uns Geschwistern haben alle ihre Bedeutung. Hans Heinrich heißt nach seinen zwei Großvätern, Heinrich Coudenhove und Hans Pálffy. Jakob nach einem niederländischen Vorfahren, der einst die Schreckensnachricht vom Sacco di Roma durch die kaiserlichen Landsknechte dem Kaiser Karl V. überbringen musste. Diese Geschichte inspiriert mich zu romantischen Phantasien: wie der Bote auf schaumbedecktem Pferd, mit verhängten Zügeln, Tag und Nacht durchgaloppiert, den langen Weg von Rom nach Madrid. Wie er zwischendurch nur schnell das Reittier wechselt und dann, völlig erschöpft, seinem Kaiser Bericht erstattet. Er wird reich belohnt, obwohl er schlimme Dinge zu berichten hat.
Mein Name, Barbara, erinnert an die heilige Barbara, Schutzpatronin der Artillerie. Ihrer Fürsprache ist es zu verdanken, wird mir gesagt, dass mein Vater, der Artillerist, den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat. Einzig Michael heißt, wie er heißt, weil der
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