Zuhause ist ueberall
Familie erlebt hat. ›Zwei Jahre lang‹, sagt sie, ›haben mein Vater und meine Brüder nicht miteinander gesprochen.‹
Der alte Tsung Yang Yi arbeitete im Elektrizitätswerk in Tschangscha, der Hauptstadt der Provinz Hunan. Ursprünglich stammte er aus Schanghai, aber als in Tschangscha das neue Werk gebaut wurde, wurden erfahrene Facharbeiter aus anderen Städten dorthin versetzt. Vater Tsung, ein alter Kommunist, war dabei.
Als die Kulturrevolution ausbrach, war er zunächst entsetzt. Damals klebten die jungen Arbeiter – unter ihnen sein eigener Sohn – den ganzen Fabrikhof voll mit Wandzeitungen, in denen Liu Schao Tschi, Maos moderater und reformwilliger Rivale, und die Parteileitung erbittert kritisiert wurden. Tsung Sung Tschien: ›Mein Vater hat gesagt, diese jungen Taugenichtse ruinieren noch die ganze Partei. Sie sollen lieber arbeiten, statt so viel zu kritisieren.‹
Einer der wildesten Rebellen war der junge Tsung. Er malte ein Plakat, das ein riesiges Hosenbein zeigte und einen kleinen Mann, der sich krampfhaft daran festhielt. Darunter stand: Tsung Yang Yi kann das Hosenbein von Liu Schao Tschi nicht loslassen. Gemeint war: Vater Tsung ist ein Anhänger des in Ungnade gefallenen Mao-Rivalen. Der ganze Betrieb lief zusammen, um das Plakat zu betrachten. ›Mein Vater kränkte sich sehr und war sehr böse‹, erzählt Tsung Sung Tschien. Er gründete eine ›Schutztruppe Diktatur des Proletariats‹ und ging mit der Armbinde dieser Schutztruppe durch die Stadt.
Die Spaltung ging damals mitten durch die Familie. Tsung Sung Tschiens Mutter und die jüngere Schwester hielten zum Vater, Tsung Sun Tschien – damals schon Germanistikstudentin in Peking und begeisterte Rotgardistin – und die beiden Söhne standen auf der Seite der Kulturrevolutionäre. ›Es war damals furchtbar ungemütlich zu Hause‹, erinnert sich unsere Dolmetscherin. ›Mein Vater verbarrikadierte sich hinter seiner Zeitung, und die Brüder schwiegen. Meine Mutter weinte viel. Ich sagte nichts, wenn gestritten wurde, aber ich sprach manchmal allein mit meinem Vater. Er ist ein guter, ehrlicher Mensch, aber er hatte eben nicht begriffen, dass die Partei die Revolution brauchte.‹
Der schlimmste Moment für den alten Tsung kam, als die jungen Arbeiter in seinem Betrieb beschlossen, ihn aus der Partei auszuschließen – ihn, der in den schweren Zeiten des Bürgerkriegs und nachher beim Aufbau des Werks so große Opfer für die Partei gebracht hatte. Er beschloss, nach Peking zu fahren und sich direkt beim Zentralkomitee über die Vorgänge in Tschangscha zu beschweren. Das alles konnte doch unmöglich im Sinne des Großen Vorsitzenden Mao sein! Aber aus der Beschwerde wurde nichts. Tsung Yang Yis älterer Sohn trat dazwischen und machte seinem Vater klar, dass er nicht ›über die Köpfe der Genossen zu Hause‹ hinweg handeln könne. Verbittert und erzürnt fuhr der alte Mann nach Hause.
Mehrere Monate hörten die Geschwister nichts von ihm. Sie zogen durchs Land, als Agitatoren der Kulturrevolution. Dann kam ein Brief, der alle Kinder nach Hause beorderte. Der alte Tsung hatte eine Familiensitzung einberufen und beschlossen, Selbstkritik zu üben. Während alle erwartungsvoll um den Tisch herum Platz nahmen, entfaltete er ein eng beschriebenes Papier. Die Tochter: ›Fünf Bogen hat mein Vater vollgeschrieben. Er gab zu, dass er die Linie des Vorsitzenden Mao nicht voll verstanden hatte. Aber er kritisierte auch das anarchistische Verhalten meiner Brüder.‹
Das war 1969. Seither hängt der Haussegen bei den Tsungs wieder gerade. Ich aber frage mich insgeheim: Hatte Vater Tsung wirklich ›seinen Irrtum eingesehen‹? Oder haben ihn die Jungen einfach fertiggemacht? Ich bin ziemlich sicher: das Letztere.
Liebe, Flirt und Sex sind Begriffe, die im chinesischen Leben fast gar keine Rolle zu spielen scheinen. Zuerst kommt die Politik, dann die Arbeit, dann lange nichts – und dann erst das Privatleben. Ich frage alle unsere meist jungen Begleiter und Begleiterinnen ziemlich indiskret nach ihren Beziehungen. ›Wenn wir hier nur Liebe und Sex im Kopf hätten wie anderswo, kämen wir nicht weit‹, höre ich. Auch unsere beiden Dolmetscherinnen, beide um die dreißig, beide Mütter eines kleinen Kindes, finden nichts dabei, um politischer Aufgaben willen monatelang von ihren Familien getrennt zu sein. Ehepaare werden grundsätzlich an verschiedene Orte geschickt. Die Kinder werden in den Kaderschulen betreut. Und in den
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