Zuhause ist ueberall
werden.
Auch das kommuneeigene Krankenhaus ist ›selbstgemacht‹, ebenso wie die Medizin, die dort praktiziert wird. Der Leiter ist ein kleiner Mann vom Typ Wurzelsepp namens Sü. Herr Sü war vor elf Jahren noch Bauer, interessierte sich aber schon immer für Medizin. Er dokterte auf eigene Faust an seinen Nachbarn herum, weil, wie er sagt, die Leute doch niemanden hatten, der sie behandelte. Inzwischen hat Sü eine medizinische Grundausbildung mitgemacht und führt jetzt ein kleines Spital mit 53 Mitarbeitern. Sü ist ein Barfußdoktor, das ist jetzt in China der letzte Schrei.
Süs Sprechzimmer ist spartanisch eingerichtet. Eine Liege, ein rohgezimmerter Tisch, ein Medikamenten- und ein Geräteschrank. Aber hier hat er angeblich schon eine Klumpfußoperation und mehrere komplizierte Hauttransplantationen vorgenommen. Natürlich hat auch Sü seinen Mao parat. Er zitiert die Weisung des Vorsitzenden aus dem Jahr 1964, den ›Schwerpunkt der Gesundheitspolitik hinaus in die Dörfer zu verlegen‹.
Und noch ein Mao-Wort hat, so hören wir, die Gesundheitspolitik revolutioniert: der Satz von der ›Schatzkammer der chinesischen Medizin‹, die nutzbar gemacht werden soll. Aus dieser ›Schatzkammer‹ stammt vor allem die mehr als tausendjährige chinesische Kunst der Akupunktur, die seither von Ärzten weiterentwickelt worden ist und in allen chinesischen Spitälern praktiziert wird. Weniger bekannt sind die alten chinesischen Heilkräuter, aus denen ebenfalls seit unvordenklichen Zeiten Hausmittel gewonnen worden sind. Die Heilerfolge sind ausgezeichnet, wird uns versichert.
Ob das stimmt? Ich bin jedenfalls entschlossen, mich auf dieser Reise über nichts mehr zu wundern.
Nächste Station ist Peking. Endlich Kunst! Wir haben Glück: Seit Juli ist die ›Verbotene Stadt‹, der Kaiserpalast hinter dem ›Tor des himmlischen Friedens‹, wieder fürs Publikum geöffnet. Wie alle alte Kunst in China sind auch die Schätze des Kaiserpalastes neu arrangiert und im Einklang mit Maos Weisungen mit neuen Texten und Erklärungen versehen worden. Unser Pekinger Dolmetscher gibt auf unsere Fragen zu, dass übereifrige Rotgardisten in den Tagen des Großen Sturms da und dort Kunstwerke ruiniert haben, aber, wie er sagt, nicht im Kaiserpalast. Der Fremdenführer schildert den Verlauf der Ereignisse so: Die Studenten der Pekinger Kunstakademie seien damals in den Palast eingedrungen. Sie hätten (ähnlich wie ihre italienischen Kollegen bei der Biennale 1968) mit den Museumswärtern heftig diskutiert und Vorschläge gemacht, wie man die Kunst der Vergangenheit in revolutionärer Weise präsentieren solle. Das Resultat ist eine große rote Tafel mit dem Mao-Zitat: ›Das Volk ist die bewegende Kraft der Geschichte‹, und viele erklärende Texte in den Ausstellungssälen. Sie führen aus, dass auch die Kunstwerke der Kaiserzeit letztlich die Leistung des arbeitenden Volkes waren. Die Lösung ist erträglich – man sieht, dass hier einigermaßen verständige Leute am Werk waren und keine Banausen.
Das war offensichtlich nicht überall der Fall. Im Sommerpalast etwa, einer hübschen Gartenanlage aus der Zeit der Jahrhundertwende vor den Toren Pekings, hängen in den zierlichen Pavillons große Bilder stürmender Rotgardisten und Ussuri-Kämpfer, nach Art der meisten neuchinesischen Kunstwerke in ziemlich schlimmem Stalin-Stil gemalt. Sie passen in die höfisch-verspielte Umgebung wie die Faust aufs Auge.
Tatsächlich scheint das Verhältnis Chinas zu Kunst und Kultur der Vergangenheit aber auch in allerjüngster Zeit eine Veränderung erfahren zu haben. Seitdem die Kulturrevolution ihren Höhepunkt überschritten hat, wird überall ein Mao-Wort groß herausgestellt, das von der Verpflichtung spricht, das Kulturerbe Chinas zu bewahren und in Ehren zu halten. Der Spruch ist überall. Er ist wohl als Schuss vor den Bug allzu bilderstürmerischer Ultraradikaler gedacht, die die seinerzeitige Parole ›die vier Alten zerstören‹ (alte Kultur, alte Gedanken, alte Bräuche, alte Gewohnheiten) allzu wörtlich nahmen.
Dass diese Tendenz noch relativ neu ist, glaube ich der Reaktion unserer beiden Dolmetscherinnen zu entnehmen. Beide sind gescheite junge Frauen mit Universitätsausbildung. Befragt, wie ihnen die Kunstwerke gefallen, antworten sie eher unsicher: ›Nicht besonders‹, ›Wir machen uns nichts aus solchen Sachen‹, ›Modernes ist schöner.‹
Außerhalb des Palast- und Gartenviertels wirkt Peking ein wenig grau
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