Zuhause ist ueberall
und staubig. Das kommt auch daher, dass an allen Ecken und Enden gebaut wird. Überall werden die kleinen grauen Steinhäuser des alten China mit ihren reizvollen Innenhöfen, den niedrigen Mauern und geschwungenen Eingangstürchen abgerissen. An ihrer Stelle entstehen Wohnblocks im Allerweltsstil, nüchtern, hässlich und praktisch. Die Zehnmillionenstadt braucht Wohnungen – und sie baut sie auf typisch chinesische Weise: mit den bloßen Händen. Auf einer riesigen Baustelle im Ostteil der Stadt sehen wir kaum Maschinen, dafür aber einige tausend Arbeiter, die mit dem Spaten den Grund ausheben. Schon nächstes Jahr soll hier ein neues Wohnviertel stehen.
Der Stolz des neuen Peking ist die riesige Kongresshalle auf dem Tiananmen-Platz. Wir sehen Säle, Salons und Ruheräume für die Abgeordneten, jeweils mit Kunstprodukten der einzelnen Provinzen geschmückt, darunter ein ganzer Elefantenzahn mit einer minutiös geschnitzten Szene des Kantoner Aufstands. Alles zeugt von großartiger Handwerkskunst und ziemlich schlechtem Geschmack.
Im großen Pekinger Warenhaus, einem neuen, ebenfalls an russische Vorbilder gemahnenden Gebäude an der Hauptstraße, gibt es alles Notwendige und nichts Überflüssiges. Kurz entschlossen kaufe auch ich mir einen blauen Mao-Anzug und ziehe ihn gleich an. Ich habe es satt, in meinen West-Sachen ständig angestarrt und bezupft zu werden. Der Anzug trägt sich bequem, wie ein Schlosseranzug in grober Baumwolle. Aber wie lange, denke ich bei mir, werden es die chinesischen Frauen hinnehmen, niemals etwas Schickes zu besitzen und sich niemals ein bisschen hübsch machen zu dürfen.
Wer in Peking abends ausgehen will, hat nicht allzu viele Möglichkeiten. Wir hören ein Konzert, das uns unsere Dolmetscherinnen als Errungenschaft der Kulturrevolution angekündigt haben. Wieder erleben wir eine Überraschung: Das ›revolutionäre‹ Musikstück ist ein pseudoromantisches Konzert für Klavier und Orchester, melodisch und schmissig, das jedem bürgerlichen Salonorchester zur Ehre gereichen würde. Ausgerechnet das Klavier – Sinnbild bürgerlicher Musikkultur im Westen – ist in China mit der Kulturrevolution populär geworden.
Der Pekinger Beihai-Kindergarten liegt in einem hübschen alten Haus, einst wohl die Villa eines Mandarins, mit großem Garten. Wir bekommen eine Kostprobe revolutionärer Vorschulerziehung, charmant und beklemmend zugleich. Die Kinder malen eine rote Sonne. Das Bild heißt ›Der Osten ist rot‹. Sie malen amerikanische Flugzeuge, die von vietnamesischen Panzern beschossen werden. Sie malen Maos Geburtshaus und Szenen aus den Revolutionsstücken der Peking-Oper. Sie rechnen: Wenn von zwei Soldaten der israelischen Aggressoren einer von den tapferen Verteidigern erschossen wird, wie viele bleiben dann übrig? Am Schluss kommt eine Revue: Die Kinder, als Arbeiter, Bauern und Soldaten kostümiert, tanzen ›Die Kulturrevolution entfaltet ihren Glanz‹. Sie schwingen kleine Holzgewehre und singen dazu: ›Langes Leben dem Vorsitzenden Mao‹. Mao sei die Sonne, heißt es in dem Lied weiter. Das alles wird mit Anmut und erstaunlicher Verve ausgeführt. Trotzdem bleibt uns der Beifall fast im Halse stecken. Diese stramm disziplinierten ›Kleinen Roten Soldaten‹ (der Name für Chinas Kinderorganisation) sind reizend, aber sie sind auch ein wenig zum Fürchten.
Sogar die Pose des mutigen Vorwärtsstürmens, die wir von Denkmälern her kennen, haben die Kinder drauf. Werden sie bei der nächsten Kulturrevolution ihren Lehrern diese Bilder und Texte um die Ohren schlagen? Fast hoffe ich es.
Shao Tsung, unsere Dolmetscherin, deren kleiner Sohn auch im Kindergarten ist, erzählt uns, dass jeder Kindergarten ein ›Verbindungsbuch‹ führt. Dort wird wöchentlich aufgezeichnet, ob das Kind brav war. ›Wenn mein vierjähriger Sohn mit einem Tadel nach Hause kommt, geniert er sich so, dass er mich gar nicht anschauen mag‹, sagt Shao Tsung. Aber sie lächelt dabei. Sie sieht nicht aus wie eine strenge Mutter, meint aber offensichtlich, es sein zu müssen.
In einem Pekinger ›Arbeiterclub‹, einer Art großem Kino, sehe ich zum ersten Mal eine Vorstellung der Peking-Oper. Gegeben wird an diesem Abend ›Du Juan Shan‹, ein Stück aus dem Bürgerkrieg. Der Saal ist ausverkauft. Die Leute tragen Arbeitskluft, man sieht Rotarmisten, Arbeiter, Schüler, Großmütter mit Kleinkindern. Ein Opernbesuch ist hier kein festliches Ereignis, sondern ein volkstümliches
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