Zuhause ist ueberall
abzuschwören. Sie sind irgendwo in der ›Produktion‹ verschwunden. Zweifler, Skeptiker, Individualisten haben hier keine Chance. Das neue China, das wird klar, hasst Intellektuelle.
Auf der großen Uferstraße in Schanghai sehe ich ein Tatsebao, eine Wandzeitung, mit einer drastischen Illustration zum Thema chinesische Literatur: Drei riesige rote Schreibfedern spießen einen kleinen Mann auf, der sich auf dem Boden windet. Der Mann ist der Schriftsteller Tschen Yang, und der Begleittext ist eine rabiate Verurteilung von dessen Bearbeitung der ›Auferstehung‹ von Tolstoi für das Theater. Dem Stück wird ›bürgerlicher Humanismus‹ vorgeworfen. Tschen Yang, Anfang der Sechzigerjahre stellvertretender Minister für Kultur, war früher ein bekannter und progressiver Autor. Jetzt soll er als Ausgestoßener in Peking leben. Wer das Tatsebao verfasst hat, frage ich. Antwort: die Massen. Ich tippe eher auf einen Funktionär aus dem Kulturapparat.
Das Thema Literatur ist – wie die kulturelle Szene überhaupt – eines der düstersten Kapitel im neuen China. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Lage seit dem Ende der Kulturrevolution verbessert hat. Eher im Gegenteil. An die Stelle der revolutionären Übertreibungen am Anfang scheint eine engstirnige Gleichschaltung getreten zu sein. Einige wichtige Aufsätze, die Liu Schao Tschis ›revisionistische‹ Linie auf kulturellem Gebiet kritisieren, sind ins Englische übersetzt worden. Die Lektüre dieser Aufsätze ist deprimierend. Bis in die Formulierungen hinein (›winselnde Schakale‹, ›Renegaten‹, ›Verräter‹, ›feindliche Agenten‹, ›Speichellecker des Imperialismus‹) erinnern sie fatal an die Polemiken der Stalinzeit in der Sowjetunion.
Über die zeitgenössische Literaturproduktion kann man sich in der Zeitschrift Chinesische Literatur informieren, die auch auf Englisch und Französisch erscheint. Jede Nummer bringt Gedichte, Erzählungen und Reproduktionen moderner Bilder. Alle haben den Aufbau und das Leben in Volkskommunen und Betrieben zum Gegenstand, kunstlose Werkchen mit leicht fasslicher Lesebuchmoral. Da ist etwa die Geschichte von ›Tschen Siu Kin, Tochter der Partei‹. Die Jungkommunistin hilft in ihrer Heimatbrigade, die Revisionisten zu entlarven, riskiert ihr Leben, um aus dem Ozean Algen zur besseren Düngung der Maulbeerbäume zu holen, und wird tödlich verletzt, als sie einen Brand in der brigadeeigenen Baumschule zu löschen versucht. ›Ihre Augen scheinen etwas zu suchen. Plötzlich leuchten sie auf und bleiben am Bilde des Vorsitzenden Mao hängen. Noch einmal hört man sie leise sprechen. ‚Zündet die Lampe an, ich will noch einmal die Drei Schriften studieren.‘ Langsam schließen sich ihre Augen. Sie lächelt und hört auf zu atmen.‹«
So weit mein Reisetagebuch. In ihrer ganzen Furchtbarkeit habe ich als China-Touristin die Früchte der Kulturrevolution nicht erkannt. Aber wenigstens bin ich der Propaganda nicht zur Gänze auf den Leim gegangen.
»Das rosarote Kerzlweiberl«
Die Abtei St. Gabriel ist eine alte Burg auf einem Hügel bei Pertlstein in der Südsteiermark. Weinberge und Wald rundherum, unten im Tal fließt, windungsreich und unreguliert, die Raab. Benediktinerinnen sind hier zu Hause. Die gelb verputzten Mauern sind über und über mit wildem Wein bewachsen, und auf dem schmalen Weg zur Kapelle muss man sich zwischen den üppig wuchernden Hortensien und dem andrängenden Klosterwald regelrecht durchschlängeln. Noch eine Weile, sage ich zu Schwester Gregoria, der Pfortenschwester, und man wird euch gar nicht mehr finden, wie Dornröschen in ihrem zugewachsenen Schloss. Aber es gibt uns noch, sagt Gregoria. Heuer gibt’s uns noch.
Ich bin als Gast nach St. Gabriel gekommen. Es ist das Jahr 1979, Franz ist tot, und ich kann mir noch nicht vorstellen, wie ich ohne ihn zurechtkommen soll. Ich brauche eine Auszeit, fern von der gut gemeinten Anteilnahme der Freunde, die mich partout auf andere Gedanken bringen wollen. Ich möchte allein sein, aber doch nicht ganz allein. Ich will nicht mit Fragen gelöchert werden, aber mich gleichzeitig gut aufgehoben fühlen. Als »rosarotes Kerzlweiberl«, wie mich Franz genannt hat, habe ich von St. Gabriel schon gehört. Das könnte passen. Ich schreibe der Äbtissin und melde mich an. Diese bringt mich zunächst im klostereigenen Gästehaus unter, aber schon bald darf ich in die Klausur übersiedeln und das Leben der Schwestern teilen. Wieder lerne
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