Zuhause ist ueberall
Stücken der Peking-Oper gibt es auch nicht die leiseste Andeutung einer Liebesgeschichte. Held und Heldin, wiewohl jung und schön, reden miteinander ausschließlich über Revolution und Aufbau. Dass sie sich eines Tages auch privat finden werden, kann man nur hoffen.
Das Dorf Tung Ti, unser nächstes Ziel, ist wunderhübsch: alte Häuser, wie in Italien entlang winkeliger Gassen und an Kanälen eng aneinandergebaut. Hier haben wir zum ersten Mal Gelegenheit, uns mit chinesischen Bauern zu unterhalten.
Wir versuchen es in einem neuen Haus, das jedoch ganz nach altem Vorbild gebaut zu sein scheint. Yang Chin Min, der etwa vierzigjährige Hausherr, und seine Frau – er übersprudelnd, sie still und lächelnd – bieten uns nach der Sitte aller Bauern der Welt sofort etwas zum Essen an: Tee, Sonnenblumenkerne und aromatische walnussgroße Miniorangen, die man mit der Schale isst, alles appetitlich in kleinen Schüsselchen angerichtet.
Stolz zeigt uns Yang sein Haus und vor allem das Prunkstück, ein riesiges reichgeschnitztes Himmelbett mit gestickten Vorhängen und seidenbespannten Paneelen, mit Vögeln und Blumen bemalt. Das sei sein Hochzeitsbett, erklärt unser Gastgeber, offenbar einer der Spitzenverdiener im Dorf. Yangs Vater war Landarbeiter beim Gutsbesitzer. Als es einmal keine Arbeit gab, erzählt er, mussten in einem Hungerjahr seine Eltern seinen jüngsten Bruder verkaufen. Bei dieser Geschichte nimmt Frau Yang spontan ihren kleinen Sohn auf den Schoß und steckt ihm einen Sonnenblumenkern in den Mund. Dich, sagt die Geste, verkaufen wir nicht. Früher habe es immer wieder Hungerzeiten gegeben, und auch das Verkaufen von Kindern sei keine Seltenheit gewesen.
Ich gehe sehr nachdenklich weg. Wenn die chinesische Revolution nichts anderes zustandegebracht hätte, als den Hunger abzuschaffen und das Kinderverkaufen – hätte sie sich da nicht schon gelohnt? Trotz aller Schwächen?
In Schanghai, traditionell das intellektuelle Zentrum Chinas, dürfen wir endlich auch einen Blick in eine Mittelschule und eine Universität werfen. Im Bildungssystem hat die Kulturrevolution die größte Erschütterung gebracht. Manche sagen auch: Sie hat es ruiniert. In der Schule erklärt uns ein junger Kader, vor der Kulturrevolution seien hier bürgerliche Intellektuelle ausgebildet worden, losgelöst von den Massen der Arbeiter und Bauern. Jetzt, nachdem das Proletariat die Leitung übernommen hat, will man das Bewusstsein der jungen Leute verändern. Sie sollen gleichermaßen Theorie und Praxis lernen und am Ende gebildete Arbeiter sein.
Noch deutlicher wird dieses Prinzip an der Universität. Die Tung Si ist die berühmteste Architekturfakultät des Landes. Tung Si heißt ›gegenseitige Hilfe‹, die Einrichtung wurde 1907 von Deutschen gegründet. Ein großer moderner Campus, mit Forschungslaboratorien, Ateliers, Seminarräumen, gruppiert um eine Parkanlage mit einem Mao-Denkmal in der Mitte. Hier war während der Kulturrevolution einer der am heißesten umkämpften Frontabschnitte, eine Bastion der ›Revisionisten‹ um Liu Schao Tschi, die im Intellektuellenzentrum Schanghai traditionell stark waren.
Erst im Sommer 1967, ein ganzes Jahr nach dem Startschuss der Kulturrevolution, wurde an der Tung Si das erste ›Komitee der revolutionären Lehrer, Studenten und Arbeiter‹ gegründet. Auch heute, sagt der massige Offizier, der als Rektor fungiert, gebe es hier noch Elemente, die sich der Mao-Linie widersetzten. Auf gar keinen Fall soll die Bildungselite wiedererstehen, die man während der Kulturrevolution eliminiert hat. Denn auf der Tung Si ist auch der Lehrkörper ›proletarisiert‹ worden. Er besteht aus Arbeitern, die sich weiterqualifiziert haben, und aus einigen wenigen Dozenten von früher, die in der Produktion ›umerzogen‹ wurden und ihre alten Irrtümer eingesehen haben. Klingt alles ziemlich schauderhaft.
Es dauert eine Weile, bis ich einen solchen umerzogenen Altintellektuellen finde. Ich erkenne ihn gleich. Professor Fu Scheng Schi ist ein schmaler mittelgroßer Mann von zweiundfünfzig Jahren, mit einem klugen, etwas bedrückten Gesicht. Er hält sich im Hintergrund und lässt lieber die Jungen reden. ›Ich gehörte auch zu denen, die kritisiert wurden‹, sagt er schließlich, als ich nicht locker lasse. Man sieht ihm an, dass er viel mitgemacht hat. Nur ganz wenige Professoren, erfahre ich später, ›weniger als fünf Prozent‹, haben sich geweigert, ihren ›Irrtümern‹
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