Zum ersten Mal verliebt
glitzerte immer noch silberblau in der Dämmerung. Ach, es war alles so herrlich: die klare, salzige Luft, der Tannenduft, das Lachen der Freundinnen. Rilla liebte das Leben, seine Frische und seinen Glanz. Sie liebte das Murmeln der Musik, das Summen einer fröhlichen Unterhaltung. Am liebsten wäre sie für immer und ewig diesen glitzernden, schattenhaften Weg entlanggelaufen. Es war ihre erste Party und ihr stand ein herrlicher Abend bevor. Sie brauchte sich um nichts auf der Welt zu sorgen, nicht einmal um Sommersprossen und überlange Beine. Um nichts, außer vielleicht die Ungewissheit, ob sie auch wirklich zum Tanzen aufgefordert würde. Es war schön und tat gut, einfach nur zu leben, fünfzehn zu sein -und hübsch noch dazu. Rilla tat einen tiefen Atemzug - und hielt mittendrin inne. Jem erzählte Faith gerade eine Geschichte, die sich im Balkankrieg zugetragen hatte.
»Der Doktor verlor beide Beine, sie wurden ihm zerquetscht, und man ließ ihn einfach liegen. Er schleppte sich kriechend von einem Mann zum ändern, zu all den Verletzten um ihn herum, solange es ihm noch möglich war. Er tat alles, was er konnte, um ihre Schmerzen zu lindern, ohne dabei einen Augenblick an sich selbst zu denken. Er wollte gerade einem Mann das Bein verbinden, als ihn seine Kräfte verließen. Dort fand man sie, die toten Hände des Doktors hielten immer noch den Verband fest, die Blutung hatte aufgehört und der andere Mann wurde gerettet. Wenn das kein Held war, Faith? Ich kann dir sagen, als ich das gelesen habe -«
Damit gerieten Jem und Faith außer Hörweite. Gertrude Oliver zitterte plötzlich. Rilla drückte ihr mitfühlend den Arm. »War das nicht schrecklich, Miss Oliver? Mich wundert es nicht, dass Sie zittern. Ich weiß gar nicht, warum Jem solche grauenhaften Sachen immer ausgerechnet dann erzählen muss, wenn wir uns ein bisschen amüsieren wollen.«
»Du findest das schrecklich, Rilla? Ich finde es wunderbar! Wenn man so etwas hört, muss man sich doch schämen jemals an der Natur des Menschen gezweifelt zu haben. Was der Mann da getan hat, war wie eine Tat Gottes. Und wie die Menschlichkeit übereinstimmt mit dem Ideal der Selbstaufopferung! Warum ich zittere? Das weiß ich selbst nicht. Es ist sicher warm genug heute Abend. Vielleicht geht gerade jemand über das dunkle, sternenbeschienene Stück Erde, das einmal mein Grab sein soll. Das ist die Erklärung, die der alte Aberglaube liefern würde. Aber ich glaube, ich denke lieber nicht mehr über solche Sachen nach an so einem schönen Abend. Weißt du, Rilla, wenn es Abend wird, dann bin ich immer froh, auf dem Land zu leben. Wie zauberhaft ein Sonnenuntergang ist, das erfahren doch Stadtbewohner nie. Jeder Abend ist schön auf dem Land, sogar wenn es stürmt. Wenn der Sturm abends die Küste entlangfegt, das gefällt mir. Ein Abend wie heute ist allerdings fast zu schön. Er gehört der Jugend und den Träumen und ich habe ein wenig Angst davor.«
»Mir kommt es vor, als sei ich ein Teil davon«, sagte Rilla.
»Natürlich, du bist jung und fürchtest dich noch nicht vor der Vollkommenheit. So, jetzt sind wir am Traumhaus angekommen. Es sieht verlassen aus diesen Sommer. Sind die Fords denn nicht gekommen?«
»Nein, zumindest nicht Mr und Mrs Ford und Persis. Nur Kenneth war da, aber der hat sich bei den Verwandten seiner Mutter in Overharbour aufgehalten. Wir haben ihn diesen Sommer kaum gesehen. Er hinkt ein bisschen, deshalb ist er auch nicht viel unterwegs gewesen.«
»Er hinkt? Was ist denn mit ihm passiert?«
»Er hat sich letzten Herbst beim Fußballspielen den Knöchel gebrochen und musste fast den ganzen Winter über liegen. Seitdem humpelt er, aber es wird nach und nach besser, und er meint, dass er bald wieder ganz gesund ist. Er ist nur zweimal in Ingleside gewesen.«
»Ethel Reese ist ganz verrückt nach ihm«, sagte Mary Vance. »Dabei ist er ihr haushoch überlegen. Neulich hat er sie nach der Gebetsstunde begleitet, seitdem ist sie so eingebildet, dass es einem schlecht wird davon. Als ob einer aus Toronto wie Ken Ford auch nur im Traum daran denkt, sich mit einem gewöhnlichen Mädchen vom Lande abzugeben!«
Rilla wurde rot. Ach was, selbst wenn Kenneth Ford hundertmal mit Ethel Reese nach Hause ging, das war ihr doch egal, und ob ihr das egal war! Was er tat, kümmerte sie überhaupt nicht. Er war schließlich um Jahre älter als sie. Er war befreundet mit Nan und Di und Faith, aber sie, Rilla, war in seinen Augen doch noch ein
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