Zum ersten Mal verliebt
wusste doch genau, dass er es nicht mehr hören konnte, wenn jemand sich nach seinem Knöchel erkundigte. Als er in Ingleside war, hatte er das gesagt. Zu Di hatte er sogar gesagt, er werde sich ein Plakat vor die Brust hängen, auf dem alle lesen könnten, dass es seinem Knöchel besser ging. Und jetzt musste sie ihn schon wieder mit dieser abgedroschenen Frage nerven. Kenneth hatte es in der Tat satt, über seinen Knöchel zu reden. Allerdings hatte noch niemand mit einem so bezaubernden Mund und einem so verführerischen Grübchen in der Oberlippe danach gefragt. Vielleicht antwortete er deshalb so überaus geduldig, dass es seinem Knöchel besser ginge und er kaum noch Schmerzen hätte, solange er nicht zu lange herumlief oder stand.
»Der Knöchel wird bald wieder so kräftig sein wie früher, aber auf Fußball muss ich diesen Herbst wohl verzichten.«
Sie tanzten zusammen, und Rilla spürte, wie die Mädchen in ihrer Nähe sie beneideten. Nach dem Tanz gingen sie hinab zu den Felsstufen, und Kenneth fand ein kleines Boot, mit dem sie im Mondschein zur Sandküste hinüberruderten. Dort spazierten sie am Meer entlang, bis Kenneths Knöchel nicht mehr mitmachte. Sie setzten sich zwischen die Dünen, und Kenneth sprach mit ihr wie sonst nur mit Nan und Di. Rilla, von plötzlicher Schüchternheit ergriffen, brachte kaum ein Wort hervor und dachte, er müsse sie wohl für schrecklich dumm halten. Trotzdem war alles so schön: die herrliche Mondnacht, das schimmernde Meer, die kleinen Wellen, die schäumend an Land spülten, der kühle, launenhafte Wind, der durch die Dünengräser summte, die süße Musik, die übers Wasser herüberdrang.
»>Ein fröhliches Mondscheinlied für der Meerjungfrauen Fest<«, zitierte Kenneth leise aus einem von Walters Gedichten.
Und sie beide ganz allein inmitten dieser Herrlichkeit! Wenn bloß ihre Stöckelschuhe nicht so drücken würden! Und wenn sie doch bloß so klug reden könnte wie Miss Oliver. Ach was, wenn sie wenigstens so normal reden könnte wie sonst mit anderen Jungen! Aber es fiel ihr nichts ein, sie konnte nur zuhören und hier und da irgendwelche belanglosen Sachen dahermurmeln. Aber vielleicht waren ja ihre träumerischen Augen, ihr reizender Mund und ihr schlanker Hals ausdrucksvoll genug. Jedenfalls schien Kenneth es mit der Rückkehr nicht eilig zu haben, und als sie dann doch gingen, war das Abendessen schon in vollem Gange. Er entdeckte für sie einen Platz am Fenster der Leuchtturmküche und setzte sich neben sie aufs Fensterbrett, während sie Eiskrem und Kuchen verspeiste. Rilla schaute umher und dachte, wie schön doch ihre erste Party war! Nie würde sie diese Party vergessen! Das Lachen der Partygäste drang bis in die Küche. Blicke aus schönen Augen funkelten und leuchteten. Vom Pavillon draußen hörte man das fröhliche Lied der Geige und die rhythmischen Schritte der Tänzer.
ln einer Gruppe von Jungen, die an der Tür standen, wurde es plötzlich unruhig. Ein junger Mann drängte sich durch, blieb auf der Schwelle stehen und blickte mit ernstem Gesicht um sich. Es war Jack Elliott aus Overharbour, ein McGill-Medizinstudent, ein sehr ruhiger Mensch, der sich nicht viel aus geselligen Zusammenkünften machte. Er war zwar zu der Party eingeladen worden, aber keiner rechnete mit ihm, weil er bis spät abends in Charlottetown zu tun hatte. Doch da stand er jetzt, mit einem zusammengefalteten Stück Papier in der Hand.
Gertrude Oliver erblickte ihn von ihrem Platz aus und fing wieder an zu zittern. Immerhin hatte auch sie die Party genießen können, nachdem sie jemanden aus Charlottetown kennen gelernt hatte. Es war ein Fremder und viel älter als die meisten Gäste, weshalb er sich zunächst als Außenseiter fühlte und froh war, auf diese kluge junge Frau zu treffen, mit der man sich so angeregt über Dinge unterhalten konnte, die draußen in der Welt passierten. In seiner angenehmen Gesellschaft hatte sie ihre bösen Vorahnungen vergessen. Jetzt kamen sie plötzlich wieder. Was waren das für Nachrichten, die Jack Elliott da brachte? Die Zeilen aus einem alten Gedicht schossen ihr unwillkürlich durch den Kopf: »Tumult war plötzlich in der Nacht - still! Horch! Dunkel ertönt es wie Grabgeläut.« Warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken? Wieso sagte Jack Elliott nichts, er wollte doch etwas sagen?! Warum stand er einfach nur so da?
»Frag ihn, frag du ihn«, sagte sie aufgeregt zu Allan Daly. Aber es war ihm schon jemand
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